1. Kapitel
Jette Blümerant sah aus dem Fenster die Straße zum Bahnhof von Langeoog hinunter. Die Inselbahn war gerade angekommen und spuckte farbenfroh gekleidete Menschenmassen aus. Für eine Weile war viel Leben auf der Straße, aber schon bald würde alles wieder seinen gewohnten Gang gehen.
Jette suchte ihren Lebensgefährten Günther in der Menge. Es dauerte eine Weile, bis sie ihn entdeckt hatte und er auf sie zukam. Ihm folgte eine blonde, junge Frau. Ihre leicht gewellte Mähne reichte bis zum Po, das Gesicht war exakt bemalt. »Wen schleppt er denn jetzt wieder an?«, seufzte Jette. Dass Günther Besuch mitbringen wollte, hatte er ihr nicht erzählt.
Die junge Frau trug eine rosa Rüschenbluse zu hellen Jeans mit weißem Spitzenbesatz, ihre Füße zierten hochhackige Pumps, mit denen sie über die Straße stöckelte und dabei ihr sehenswertes Hinterteil schaukeln ließ. Die sieht aus wie eine Kopie von Marilyn Monroe, dachte Jette. Was auch immer eine solche Person auf die Nordseeinsel verschlagen haben mochte, mit ihren Pumps würde sie jedenfalls nicht weit kommen. Spätestens im Dünensand wäre das Ende eines Spaziergangs mit diesen Fußkorsetts gekommen.
Günther Meilenstein zerrte derweil einen überdimensionalen pinkfarbenen Trolley mit der rechten Hand hinter sich her und balancierte links zugleich ein Necessaire gleicher Farbe aus, das mit langen Schlaufen in seiner Armbeuge hing.
Jette schüttelte resigniert den Kopf und strich sich das dunkle Haar zurück, das sie seit zwei Wochen kurz geschnitten trug. Es war typisch für Günther, ohne Vorwarnung jemanden mitzubringen. Sie vermutete mal wieder einen Notfall, für den sich ihr Lebensgefährte verantwortlich fühlte. Seit Jette und er sich im letzten Sommer nach 30 Jahren wiedergefunden hatten, waren sie eigentlich verliebt wie in jungen Jahren, nur war Günther immer wieder für eine Überraschung gut. Mal sehen, was es mit der Ankunft der jungen Frau auf sich hatte. Im Sommer, als Günther zum ersten Mal vom Festland nach Langeoog gekommen war, hatte er einen großen Metallkäfig dabeigehabt. Darin hockte der Scheidungshamster Emma. Er hatte seiner Nachbarin auf dem Festland gehört, die in Scheidung lebte und eine Zeit lang nicht auf das Tier hatte aufpassen können. Günther, der nie Nein sagen konnte, war deshalb kurzfristig zum Hamstersitter geworden und hatte das Tier samt seinem Luxuskäfig zu Jette auf die Insel geschleppt, bis es wieder nach Hause konnte.
Und diesmal? Das blonde Weibchen würde mehr Platz brauchen als der Käfig. Angesichts des voluminösen Gepäcks sah es nach einer längeren Einquartierung bei Jette aus. Und ihr fiel auf, dass sie längst noch nicht alles entdeckt hatte: Aus der überdimensionalen Handtasche der Blondine schaute ein winziger Hundekopf, der rhythmisch im Takt ihrer Schritte hin und her wackelte.
Jette ging in den Flur und öffnete die Tür ihres kleinen Inselhäuschens. Der Oktoberwind fegte einen kleinen Haufen Blätter herein. Als Günther gleich darauf verlegen vor ihr stand und von der Nachmittagssonne angestrahlt wurde, schwante Jette Übles, denn im Gesicht ihres Lebensgefährten las sie eine Mischung aus schlechtem Gewissen und dem Mut des Verzweifelten.
»Hallo Jettelein«, sagte er mit einem schiefen Grinsen. Wenn Günther schon Jettelein sagte! Ihr wurde warm ums Herz.
»Hallo Günther!« Jette hielt ihm ihre rechte Wange zum Kuss hin.
Er stellte das Gepäck auf dem Gartenweg ab und wollte Jette eben einen flüchtigen Kuss auf die dargebotene Wange hauchen, als er vom entsetzten Schrei des Blondchens davon abgehalten wurde. »Günther, pass auf, dass mein Necessaire sauber bleibt! Du kannst es doch nicht auf dem dreckigen Weg abstellen!«
Verlegen hob Günther das Täschchen wieder hoch und schaute entschuldigend zu Jette. »Schön, dass ich wieder bei dir bin. Ich habe dich so vermisst! Waren sehr lange drei Wochen, meine Liebe. Aber nun habe ich das Haus endlich verkauft.« Günther hatte in Blersum ein kleines Landarbeiterhaus besessen und sich schon seit einer Weile bemüht, es zu verkaufen, weil er ganz zu Jette nach Langeoog ziehen wollte.
Jette schloss ihn in die Arme. Egal, was er ihr gleich offenbarte, sie war glücklich, dass er endlich zurück war.
»Ich freu mich auch«, sagte sie, »sehr sogar!« Dann aber zog sie ihn zu sich heran und flüsterte ihm über das Necessaire hinweg ins Ohr: »Wer ist das, Günther?«
»Ich wollte mich deshalb bei dir melden, Liebes, aber dann haben sich die Dinge überschlagen, und ich bin einfach nicht dazu gekommen.« Er lächelte gewinnend.
»Hast du mal wieder vergessen, dass wir keine Brieftauben mehr losschicken und auch Rauchzeichen nicht mehr zeitgemäß sind?« Jette stupste ihn liebevoll an, schüttelte aber den Kopf. Günther mit seiner Angewohnheit, alles auf die