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Freitag, 15. September
Knock-out.
So musste es sich anfühlen, wenn man k.o. geschlagen wurde. Ein Summen im Kopf, das immer lauter wurde. Der Blick, der so trüb wurde, als zögen direkt vor den Augen undurchdringliche schwarze Wolken auf. Und der Fall, immer schneller, in ein tiefes schwarzes Loch. Bodenlos wie ein Strudel, der ihre Glieder zerfetzte und jedes Quäntchen Energie aus ihrem Körper zog.
Sabine Kaufmann hob den Arm, der sich bleischwer anfühlte, und schob den Schlüssel ins Türschloss der Wohnung, in der sie seit vier Jahren mit ihrer Mutter lebte. Seit Hedis Selbstmordversuch und dem dreiwöchigen Zwangsaufenthalt in der Psychiatrie. Ihre Mutter konnte nicht mehr alleine bleiben, auch wenn es zwischendurch auch lichte Momente gab. Phasen, in denen Hedwig Kaufmann so normal wirkte wie jede andere Frau ihres Alters auch. Der Alltag war geregelt, die Tage in der Tagesklinik, die Abende und Nächte in der gemeinsamen Wohnung. Die Therapiesitzungen und die Pillen. Und zwischendurch immer wieder Aufenthalte in der Psychiatrie. Sabine hatte keine Ahnung, wie sie die letzten Jahre durchgestanden hatte, aufgerieben zwischen der Verantwortung für ihre Mutter und dem Job. Aber sie hatte es geschafft, hatte für Hedwig gesorgt und nebenbei ihre Arbeit als Kriminaloberkommissarin der Mordkommission in Bad Vilbel verrichtet. Und nun …
Sie brauchte drei Versuche, bis der Schlüssel das Schloss traf und sie ihn drehen und die Tür öffnen konnte. Sie trat in den Flur, graues Linoleum und ein muffiger Geruch nach Staub und Schmutzwäsche und den Speckbohnen, die sie am Abend zuvor auf Hedwigs Wunsch hin gekocht hatte. Sie rief nach ihrer Mutter, bekam aber keine Antwort. Unwillkürlich schaute sie auf die Armbanduhr. Sie war zu spät. Normalerweise holte sie ihre Mutter selbst aus der Tagesklinik ab, doch heute hatte sie einen Pfleger gebeten, Hedi nach Hause zu bringen, weil ihr Dienststellenleiter sie am späten Nachmittag zu einem Gespräch erwartet hatte. Dieser verfluchte Konrad Möbs. Fünf Jahre stand sie nun bereits unter seiner Fuchtel, und kaum ein Tag war vergangen, ohne dass er sie spüren ließ, wie wenig er von dem Experiment Mordkommission hielt, das man seiner Polizeistation untergeschoben hatte.
Hatte der Mitarbeiter der Klinik ihre Mutter noch gar nicht gebracht? Hatte er sie wieder mitgenommen, weil Sabine nicht da gewesen war? Oder hatte er sie einfach hier abgesetzt, obwohl er wusste, dass man sie nicht allein lassen durfte?
Sabine Kaufmann öffnete die Tür zum Wohnzimmer und rief erneut: »Mama? Bist du da? Wo steckst du denn?«
Das Wohnzimmer war leer, der Fernseher ausgeschaltet, die Wolldecke ordentlich auf dem Sofa gefaltet. Sabine ging in die Küche. Sie sah sofort, dass ihre Mutter hier gewesen sein musste. Der Wasserkocher stand gefährlich nah am Rand der Spüle. Auf dem Tisch eine halb volle Tasse, aus der ein Faden mit dem Pappschild eines Früchtetees hing. Sabine legte prüfend die Hand an Tasse und Kocher und stellte fest, dass beides kalt war. Sie beschleunigte ihre Schritte. Warf einen Blick ins Schlafzimmer ihrer Mutter, dann in ihr eigenes. Blümchentapete, dunkle Eichenholzmöbel und jede Menge Nippes hier, weiße Wände, Billy Birke und ein zerlesenes Buch auf dem Boden dort, aber keine Hedi. Die Unruhe wuchs und vermischte sich mit dem dumpfen Gefühl zu etwas, das wie ein breiiger Klumpen in Sabines Magen lag.
»Hallo?«
Sie eilte durch den Flur zur Badezimmertür und riss sie auf. Dann ließ sie sich mit dem Rücken gegen den Türrahmen sinken und schloss die Augen. Ihre Mutter war nicht da. Wieder überkam sie bleierne Schwere. Sie fühlte sich unendlich müde.
Sie hatte keine Ahnung, wo sie ihre Mutter suchen sollte. Hed