Silvia Pattern, vierundzwanzig Jahre jung, lebenslustig und normalerweise voller Schwung und Tatendrang, unterdrückte bereits etliche Male ein herzhaftes Gähnen. Sie beschloß, den Sender in ihrem Autoradio zu wechseln; bisher hatte sie mit halbem Ohr der ziemlich drögen Stimme eines so genannten »Experten für Liebes- und Ehefragen« zugehört.
Der Mann tat so, als wüßte er tatsächlich für alle Probleme eine Lösung – etwas, das ihm Silvia nicht so ohne weiteres abnahm. »Vermutlich ist er selbst schon dreimal geschieden«, brummte sie unwillig, ehe sie dem »Lebensberater« mitten im Wort den Saft abdrehte und einen Sender suchte, der Rock und Popmusik brachte, während sie gleichzeitig aus dem Augenwinkel heraus den zwar wunderschönen, aber gleichzeitig geheimnisvoll, ja sogar ein wenig unheimlich anmutenden Wald links und rechts beobachtete.
Sie konnte diesmal dem Gähnreflex nicht widerstehen, da sie vergangene Nacht sehr schlecht geschlafen hatte. Das war immer so, wenn sie am nächsten Tag »auf Tour« war. Obwohl sie ihren Job bereits seit zwei Jahren zur großen Zufriedenheit ihrer beiden Chefs in Düsseldorf erledigte und ihr die Arbeit Spaß machte, war sie in der Nacht davor jedes Mal schrecklich aufgeregt. Die Nervosität legte sich im Normalfall, sobald sie angelangt war und sich konkret auf die Suche begeben konnte.
Aber noch war es nicht so weit.
Das schlanke Mädchen mit den schulterlangen aschblonden Haaren, war, aus Aachen kommend, mit ihrem kleinen roten Peugeot auf die belgische Route Nationale gelangt und näherte sich einer Kreuzung.
»Aha, da ist es ja«, murmelte sie zufrieden, als sie das Schild »St. Pierre sur Roc, 10 Kilometer« las.
Sie bog nach rechts ab und drehte das Radio um eine Idee leiser. Es war kurz nach vier Uhr nachmittags an einem prächtigen, milden Herbsttag, Mitte September. Es war einer jener traumhaft schönen Tage, voll Erinnerung an den vergangenen heißen Sommer, aber ohne dessen verzehrende Glut, dafür mit der Verheißung von Reife und Fülle, mit einem Himmel wie lichtblaue Seide, ohne ein Wölkchen und ohne den geringsten Windhauch, jedoch mit dem betäubenden Geruch nach Erde, Wald und Gras.
›Wenn ich Glück habe, dauert das wunderschöne Wetter noch etliche Tage lang an; und es müßte schon mit dem Teufel zugehen, wenn ich nicht fündig würde‹, ging es Silvia Pattern, deren korrekte Berufsbezeichnung »Adventure Scout« lautete (was bei weitem nicht so
holprig klang wie das deutsche »Abenteuerpfadfinderin«), durch den Kopf, als sie in das schmale Sträßchen eingebogen war.
Als der Weg plötzlich ziemlich steil anstieg, schaltete sie nochmals einen Gang herunt