Die Bibliothek der Wagemutigen
Rebellische Künstler, furchtlose Freiheitskämpfer, kühne Sportler – Wagemut hat viele Gesichter. Starke Persönlichkeiten folgen nicht flüchtigen Trends, sondern inneren Überzeugungen. Leidenschaftlich, streitbar und risikobereit gehen die Helden dieser Reihe außergewöhnliche Lebenswege, auf denen nichts unmöglich ist. Erleben Sie unterhaltsam und spannend erzählte Lebensgeschichten voller Überzeugung: Wo ein Wille ist, ist auch ein Lebensweg. Die E-Books aus derBibliothek der Wagemutigen führen Sie zu den dramatischen Schicksalsmomenten im Leben von Menschen, die Geschichte machen.
Die kleine Dryade wohnt gerne im Garten der Casa Liocorno, dem Haus Einhorn. Für einen Baumgeist ist der Olivenhain in den Albaner Bergen bei Rom ein wahres Paradies. Die kleine Dryade mag Geschichten und ihr Nachbar, ein gemütlicher Herr mittleren Alters, kann wunderbar erzählen. Oft lauscht sie gebannt, was Michael Ende in seinem Arbeitszimmer denkt und schreibt: Dann erwachen die fantastischen Welten zum Leben, in denen die kleine Dryade zuhause ist. Hin und wieder erzählt Michael Ende auch von ihr. Unter dem grauweißen Bart regt sich dann ein dankbares Lächeln. Wie eine Souffleuse hauche sie ihm neue Ideen ein, wenn er selbst nicht mehr weiter wisse, erklärt er seinen Gästen.[1]
Auch heute, an diesem kalten Winterabend im Februar 1977, hat Michael Ende Besuch. Sein Verleger Hansjörg Weitbrecht ist gekommen. Stunde um Stunde sitzen die beiden Freunde beim Rotwein und reden und reden und reden. Die kleine Dryade lauscht gebannt, was da am prasselnden Kaminfeuer gesprochen wird: vom Kindlichen, vom Schönen, von der Kunst. Hin und wieder nimmt Michael Ende die dicke Hornbrille mit den großen Gläsern ab und zieht wohlig an seiner Pfeife.
Als er sich schwerfällig aus dem behaglichen Ohrenbackensessel erhebt und gemächlich in die Küche schlurft, um eine neue Flasche Rotwein zu entkorken, da sinkt die kleine Dryade erschöpft von all den Gedanken in ihrem Olivenbaum in einen Schlaf voller fantastischer Träume – und verpasst den Anfang einer unendlichen Geschichte.
Dem Verleger liegt nicht nur der gute Tropfen schwer auf der Zunge. »Michael«, druckst Hansjörg Weitbrecht herum, während der Gastgeber nachschenkt, »Michael, du solltest mal wieder ein Buch schreiben.«
Ende seufzt ergeben und quält sich abermals umständlich aus dem Sessel. Dieses Mal wankt er in die Schreibstube, wo er in einer alten Schuhschachtel auf Zettel gekritzelt seine Ideen aufbewahrt. Schluck für Schluck liest er seinem Verleger nun die Einfälle aus dem Pappkarton vor und lässt fantastische Welten entstehen. Inmitten blühender Nachtwälder und grenzenloser Steppen, irgendwo zwischen dem unentdeckten Land Unsinnsibar und dem Wünschelreich tummeln sich weise Elefanten und misstrauische Nashörner, übermütige Zauberschüler und herrenlose Schatten aller Arten.
Fast ist die Flasche geleert, als Hansjörg Weitbrecht mit einem Mal zusammenzuckt. »Den letzten noch mal, bitte!«
Ende zuckt mit den Schultern. »Wenn du meinst«, brummt er. »Ein Junge gerät während des Lesens buchstäblich in die Geschichte hinein und findet nur schwer wieder heraus.«
Weitbrecht schwenkt bedeutungsvoll sein Glas. »Das hört sich gut an, das sollt