Es war noch früh am Morgen. In der Küche des Kinderheims Sophienlust war gerade die Köchin Magda dabei, die ersten Vorbereitungen für das Frühstück der Kinder und des Personals zu treffen. Ulla, das Hausmädchen, ging quer durch die Halle und öffnete das Portal zur Freitreppe. Dann stutzte sie. Sie glaubte ihren Augen nicht trauen zu können. Direkt vor der Tür stand ein tragbares blaues Kinderbettchen.
»Nein«, sagte Ulla leise vor sich hin, »nein, das darf doch nicht wahr sein!« Sie beugte sich zu dem Kinderbettchen hinab, schob die Spitzendecke beiseite und blickte in ein liebliches Kindergesichtchen. Blonde Locken ringelten sich um das Köpfchen. Die Augen waren mit langen dunklen Wimpern bedeckt, die Wangen vom Schlaf rosig angehaucht. Ein winziger Daumen steckte im Mündchen.
Ulla drehte sich hilfesuchend um. In ihren Augen standen Tränen. Wie konnte eine Mutter es nur übers Herz bringen, ihr Kind auszusetzen?
Ulla sah Schwester Regine die Treppe zur Halle herabkommen. »Schwester Regine!«, rief sie, aber die junge Frau hörte sie nicht. »Schwester Regine!«
Die Kinderschwester, die gerade mit ihren Gedanken bei der kleinen Gisela Reimann gewesen war, die vor lauter Heimweh nach ihren Eltern Fieber bekommen hatte, hob erstaunt den Kopf. »Ulla, was ist denn?«, fragte sie, denn die Stimme des Hausmädchens hatte seltsam belegt geklungen.
»Ein Kind, Schwester Regine! Man hat uns ein Kind vor die Tür gelegt. Einfach ausgesetzt!«
Mit eiligen Schritten durchquerte Schwester Regine die Halle. Erschüttert kniete sie neben dem Bettchen nieder. Elke, dachte sie im ersten Moment. Genau so hatte ihre kleine Tochter Elke ausgesehen, bevor sie ihr durch den Tod entrissen worden war. Zärtlich berührte Schwester Regine das Kinderköpfchen. Dann rief sie sich energisch zur Ordnung. Sie musste die Vergangenheit vergessen, so schwer es ihr auch fiel. Sie hatte nun eine neue Aufgabe. Die Kinder von Sophienlust beanspruchten ihre ganze Kraft und Liebe. Sie durfte nicht zurücksehen.
»Helfen Sie mir bitte, das Kind ins Haus zu tragen«, sagte sie zu Ulla und erhob sich.
Das Hausmädchen nickte. Es wischte sich kurz über die Augen und ergriff dann eine der Tragelaschen des Bettes.
»Was wird nun mit dem Kind geschehen?«, fragte Ulla.
»Zuerst bringen wir es einmal zu Frau Rennert. Vermutlich wird es vorläufig in Sophienlust bleiben, wenigstens so lange, bis man die Mutter des Kindes gefunden hat.«
»Was kann das nur für eine Mutter sein, die ihr Kind hilflos aussetzt?«
»Wir wissen nicht, was sie zu diesem Schritt getrieben hat. Vielleicht war sie so verzweifelt, dass ihr kein anderer Ausweg einfiel, als sich von ihrem Kind zu trennen.«
Die Heimleiterin, Frau Rennert, eine ältere, sehr mütterliche Frau, saß bereits hinter ihrem Schreibtisch, als die beiden jungen Frauen mit dem Kinderbett das Büro betraten. »Man hat uns ein Kind vor die Tür gelegt, Frau Rennert«, sagte Schwester Regine.
»Machen Sie Scherze?«, fragte die Heimleiterin. Sie kam hinter dem Schreibtisch hervor und schaute in das Kinderbettchen, das die beiden Frauen auf einen Tisch gestellt hatten. Behutsam nahm sie das Kind, das noch immer schlief, aus dem Bett. »Vermutlich hat man ihm ein Schlafmittel gegeben.« Frau Rennert reichte das Kind Schwester Regine. »Ich werde sofort Frau Dr. Frey verständigen und Frau von Schoenecker. Versorgen Sie bitte inzwischen das Kleine mit allem Notwendigen.«
Schwester Regine trug das Kind auf ihrem Arm zum Erste-Hilfe-Zimmer, während Ulla ihr mit dem Kinderbettchen folgte.
»Ich werde wieder an meine Arbeit gehen«, sagte das Hausmädchen, nachdem es einen letzten Blick auf das Kind geworfen hatte. »Rufen Sie mich bitte, wenn das Kleine aufwacht.«
»Gern, Ulla«, antwortete Schwester Regine. Sie kleidete das Kind aus. Es trug einen gestrickten Hosenanzug aus blauer und gelber Wolle, dazu ein gelbes Hemdchen. Hosenanzug und Hemd waren Handarbeit. Die weiße Unterwäsche schien unzählige Male gewaschen und gestopft worden zu sein. Nirgends fand sich ein Hinweis auf die Herkunft des kleinen Mädchens.
Frau Dr. Frey und Denise von Schoenecker trafen gleichzeitig im Kinderheim Sophienlust ein. Herzlich begrüßten sie sich. Inzwischen waren auch die Sophienluster Zöglinge erwacht und hatten von dem Findelkind erfahren. Sie stürmten vom Speisesaal aus auf Denise von Schoenecker zu.
»Dürfen wir das Kind sehen, Tante Isi?«, fragte die zehnjährige Vicky.
»Wird es bei uns bleiben?«, wollte ihre Schwester Angelika wissen.
»Wir werden sehen«, wich Denise von Schoenecker aus. »Erst einmal muss Frau Dr. Frey das kleine Mädchen untersuchen. Es könnte ja sein, dass es krank ist und ins Krankenhaus muss.«
Die kleine Heidi Holsten, der Liebling von Sophienlust, fasste nach Denises Hand.