: Eduard von Keyserling
: Jürgen Schulze
: Dumala Roman
: Null Papier Verlag
: 9783962814465
: Keyserling bei Null Papier
: 3
: CHF 0.90
:
: Erzählende Literatur
: German
: 122
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Pastor Werner aus Dumala vollzieht seinen Dienst an der Gemeinde pflichtschuldig und mit ganzem Herzen. Somit wird er unfreiwillig auch zum Abnehmer der dörflichen Beichten. Er nennt es »Barmherzigkeitssport«; von der untreuen Ehefrau bis zum betrogenen Ehemann, von der Erbschleicherei bis zum Testamentsbetrug ist alles dabei. Schließlich kommt es, wie es kommen musste: Der Pastor will den Wahrheitsgehalt einer Beichte des notorischen Dorftrinkers überprüfen. Hätte er es lassen sollen? Wie viel kann man am Ende eines Tages wirklich von einem Menschen wissen? Null Papier Verlag

Eduard Graf von Keyserling (1855-1918) war ein deutscher Schriftsteller und Dramatiker des Impressionismus. Seine Schwestern Henriette (1839-1908) und Elise (1842-1915) wurden ebenso als Schriftstellerinnen bekannt. Keyserling war selbst in seinem Stand ein Einzelgänger und gesellschaftlich isoliert. Immer mal wieder vergessen und neu entdeckt gilt Keyserling aufgrund seiner ab 1903 veröffentlichten Erzählungen, Novellen und Romane als einer der wenigen bedeutenden impressionistischen Erzähler.

Dumala


Der Pas­tor von Du­ma­la, Er­win Wer­ner, stand an sei­nem Kla­vier und sang:


»Der Ne­bel stieg, das Was­ser schwoll,
Die Möwe flog hin und wie­d–e–r«

Er rich­te­te sei­ne mäch­ti­ge Ge­stalt auf. Sein schö­ner Ba­ri­ton er­füll­te ihn selbst ganz mit Kraft und süßem Ge­fühl. Es war an­ge­nehm zu spü­ren, wie die Brust sich wei­te­te, wie die Töne in ihr schwol­len.


»Aus dei­nen Au­gen lie­be­voll
Fie­len – die Trä­nen – nie–ie–­der.«

Er zog die Töne, ließ sie aus­klin­gen, weich hin­schmel­zen.

Sei­ne Frau saß am Kla­vier, sehr hübsch mit dem run­den rosa Ge­sicht un­ter dem krau­sen asch­blon­den Haar, hell­be­leuch­tet von den zwei Ker­zen, die kurz­sich­ti­gen blau­en Au­gen mit den blon­den Wim­pern ganz nah dem No­ten­blatt. Die klei­nen ro­ten Hän­de stol­per­ten auf­ge­regt über die Tas­ten. Den­noch, wenn ein län­ge­res Tre­mo­lo ihr einen Au­gen­blick Zeit ließ, wag­te sie es, von den No­ten fort zu ih­rem Mann auf­zu­se­hen, mit ei­nem ver­zück­ten Blick der Be­wun­de­rung.

Es war zu schön, wie der Mann, von der Mu­sik hin­ge­ris­sen, sich wieg­te, wie er wuchs, grö­ßer und brei­ter wur­de, wie all das Süße und Star­ke, all die Lei­den­schaft her­aus­ström­ten. Das gab ihr einen köst­li­chen Rausch. Trä­nen schnür­ten ihr die Keh­le zu­sam­men, und um das Herz wur­de es ihr selt­sam be­klom­men.


»Seit je­ner Stun­de ver­zehrt sich mein Leib,
Die See­le stirbt vor Seh–­nen –«

Die Stim­me füll­te das gan­ze Pas­to­rat mit ih­ren schwü­len Lei­den­schafts­ru­fen. Die alte Tija hielt im Ess­zim­mer mit dem Tisch­de­cken inne, fal­te­te ihre Hän­de über dem Bauch, schloss ihr ei­nes, blin­des Auge und schau­te mit dem an­de­ren starr vor sich hin. Da­bei leg­te sich ihr blan­kes, gel­bes Ge­sicht in an­däch­ti­ge Fal­ten.

Das gan­ze Haus, bis in den Win­kel, wo die Kat­ze am Her­de schlief, klang wi­der von den wil­den und schmel­zen­den Lie­bes­tö­nen. Sie dran­gen durch die Fens­ter hin­aus in die Ebe­ne, wo die Nacht über dem No­vem­ber­schnee lag; ja vom na­hen Bau­ern­hof ant­wor­te­te ih­nen ein Hund mit lang­ge­zo­ge­nem, sen­ti­men­ta­lem Ge­heul.


»Mich hat das un­glück­sel’­ge Weib
Ver­gif­tet – ver­gif­tet – –«

Die Fens­ter beb­ten von dem Verzweif­lungs­ruf. Die Kat­ze er­wach­te in ih­rer Ecke, die alte Tija fuhr sich mit der Hand über das Ge­sicht und mur­mel­te:

»Ach – Gott­chen!«


»Ver­gif­tet mit ih­ren Trä­nen.«

Die klei­ne Frau lehn­te sich in ih­ren Stuhl zu­rück, fal­te­te die Hän­de im Schoß und sah ih­ren Mann an.

Pas­tor Wer­ner stand schwei­gend da und strich sich sei­nen blon­den Voll­bart. Er muss­te sich auch erst wie­der zu­rück­fin­den.

Jetzt war es ganz still im Pas­to­ra­te. Nur Tija be­gann wie­der lei­se mit den Tel­lern zu klap­pern.

»Wie Sieg­fried!« kam es lei­se über die Lip­pen der klei­nen Frau.

»Wer?« fuhr Pas­tor Wer­ner auf.

»Du«, sag­te sei­ne Frau.

Wer­ner lach­te spöt­tisch, wand­te sich ab und be­gann, die Hän­de auf dem Rücken, im Zim­mer auf und ab zu ge­hen.

So war es je­des Mal, wenn er sich im Sin­gen hat­te ge­hen las­sen, wenn er sich mit Ge­fühl voll­ge­trun­ken hat­te. Dann kam der Rück­schlag.

Man hat­te ge­glaubt, et­was Gro­ßes zu er­le­ben, einen Schmerz, eine Lei­den­schaft, und dann war es nur ein Lied, et­was, das ein an­de­rer er­lebt hat, und die Win­de des Zim­mers mit ih­ren Fo­to­gra­fi­en, die großen schwarz und rot ge­mus­ter­ten Mö­bel, all das be­eng­te ihn, drück­te auf ihn.

Sei­ne Frau saß noch im­mer am Kla­vier und starr­te in das Licht. Auch bei ihr war der schö­ne Rausch der Mu­sik vor­über. Nur eine müde Trau­rig­keit war üb­rig­ge­blie­ben. Sie dach­te dar­über nach, warum er sich ge­är­gert hat­te, als sie »Sieg­fried« sag­te. Das kam oft so. Wenn sie ganz voll von Be­geis­te­rung für ihn war, dann war ihm et­was nicht recht, und er lach­te kalt und spöt­tisch.

»Lene, es­sen wir nicht?« frag­te Wer­ner.

Da fuhr sie auf.

»Na­tür­lich! Ge­füll­te Pfann­ku­chen!«

Und sie lief in die Kü­che hin­aus.

Am Ess­tisch un­ter der Hän­ge­lam­pe war al­les Frem­de und Er­re­gen­de fort. Wenn es ihm schmeck­te, war Pas­tor Wer­ner ge­müt­lich, das wuss­te Lene. Dann konn­te sie ru­hig vor sich hin­plau­dern, ohne be­ru­fen zu wer­den, dann hat­te sie das Ge­fühl, dass er ihr ge­hör­te.

»Die Baro­nin aus Du­ma­la fuhr heu­te hier vor­über«, be­rich­te­te sie.

»So«, mein­te Wer­ner, und sah über das Schnaps­glas, das er zum Mun­de füh­ren woll­te, hin­weg sei­ne Frau scharf an: »Nun – und?«

»Nun, ja. Sie hat­te eine neue Pelz­ja­cke an. Ent­zückend!«

Wer­ner trank sei­nen Schnaps aus und frag­te dann:

»Stand sie ihr gut, die­se Ja­cke?«

Lene seufz­te: »Na­tür­lich! Die­se Frau ist ja so schön!«

»Was ist da­bei zu seuf­zen?« frag­te Wer­ner. »Lass sie doch schön sein.«

»Weil ich sie nicht mag«, fuhr Lene fort, »des­halb. Sie will alle Män­ner in sich ver­liebt ma­chen. Aber schön ist sie.«

Wer­ner lach­te. »Was für Män­ner? Die arme Frau pflegt ih­ren ge­lähm­ten Mann Tag und Nacht. Die sieht ja kei­nen. Eine neue Pelz­ja­cke ist da doch eine sehr un­schul­di­ge Zer­streu­ung.«

»Dich sieht sie doch.« Lene nahm einen her­aus­for­dern­den Ton an, als su­che sie Streit.

Wer­ner zuck­te nur die Ach­seln.

»Mich!«

»Ja dich«, fuhr Lene fort. »Und du bist doch auch in sie ver­liebt, – et­was – nicht?«

Heu­te är­ger­te das Wer­ner nicht.

»Wenn du willst!« mein­te er.

Die klei­ne Frau durf­te heu­te ru­hig mit ihm spie­len, wie mit ei­nem großen, gut­mü­ti­gen Neu­fund­län­der. Ein we­nig schweig­sam war er, aber das pfleg­te er am Sonn­abend im­mer zu sein, wenn die Pre­digt ihm im Kop­fe her­um­ging.

Nach dem Es­sen saß das Ehe­paar am Ka­min­feu­er. Durch das Fens­ter, an dem die Lä­den of­fen ge­blie­ben wa­ren, schau­te die blei­che Schne­e­nacht in das Zim­mer. Aus der Ge­sin­de­stu­be klang Ti­jas dün­ne, zit­tern­de Stim­me. Sie sang einen Ge­sang­buch­vers.

»So ist’s hübsch«, sag­te Lene. »So ist’s ge­müt­lich! Nicht wahr? Al­les ist still, und das Feu­er, – und man sitzt bei­sam­men.«

»Stell doch der Le­bens­la­ge kei­ne Zen­sur aus«, ver­setz­te Wer­ner, der sin­nend in das Feu­er starr­te.

»Wa­rum?« frag­te Lene ei­gen­sin­nig.

»Weil, weil« – Wer­ners Stim­me wur­de streng – »weil Zen­su­ren aus­ge­stellt wer­den, wenn die Schu­le zu Ende ist.«

»Des­halb!« mein­te Lene, die ihn nicht recht ver­stan­den hat­te.

»Nun sei aber nicht un­ge­müt­lich, Wer­ner­chen.«

Sie stand auf, ging zu ihm, setz­te sich auf sei­ne Knie, schmieg­te sich an sei­ne Brust, um­rank­te den großen Mann ganz mit ih­rer klei­nen, le­gi­ti­men Sinn­lich­keit, die sich schüch­tern her­vor­wag­te.

»Wir sind doch glück­lich!« sag­te sie. »Ich sag’s doch. Ich stell’ gute Zen­su­ren aus.«

Wer­ner saß still da, ließ sich von der Wär­me die­ses jun­gen Frau­en­kör­pers durch­drin­gen. Dann plötz­lich schob er Lene bei­sei­te und stand auf.

»Wo­hin?« frag­te sie er­schro­cken.

»Oh – nichts«, er­wi­der­te er, »ich – ich will mir noch was über­le­gen.«

»Die­se ewi­ge Pre­digt!« seufz­te Lene. »Wor­über pre­digst du denn...