: Eduard von Keyserling
: Jürgen Schulze
: Seine Liebeserfahrung
: Null Papier Verlag
: 9783962814427
: Keyserling bei Null Papier
: 3
: CHF 0.50
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: Erzählende Literatur
: German
: 66
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der reiche Beinahe-Autor Magnus von Brühlen will zur schriftstellerischen Fingerübung ein Tagebuch mit seinen 'Liebeserfahrungen' verfassen. Nur leider scheitert er allzu oft an verpassten Gelegenheiten. Eine lakonisch-nüchterne Novelle mit ironischen Spitzen, die schon ins Sarkastische reichen - mithin ein eher ungewohnter Keyserling. Null Papier Verlag

Eduard Graf von Keyserling (1855-1918) war ein deutscher Schriftsteller und Dramatiker des Impressionismus. Seine Schwestern Henriette (1839-1908) und Elise (1842-1915) wurden ebenso als Schriftstellerinnen bekannt. Keyserling war selbst in seinem Stand ein Einzelgänger und gesellschaftlich isoliert. Immer mal wieder vergessen und neu entdeckt gilt Keyserling aufgrund seiner ab 1903 veröffentlichten Erzählungen, Novellen und Romane als einer der wenigen bedeutenden impressionistischen Erzähler.

Seine Liebeserfahrung


3. Au­gust 1900

Jetzt muss­te ich das Buch schrei­ben, ich fühl­te es deut­lich. Die Ge­dan­ken be­gan­nen schwer in mir zu wer­den, zu drücken, wie rei­fe Früch­te auf die Zwei­ge drücken. Mit 32 Jah­ren ist eine Ent­wick­lung nicht ab­ge­schlos­sen. Der Strich, den ich jetzt un­ter mei­ne Wel­t­an­schau­ung set­zen muss, muss noch nicht de­fi­ni­tiv sein. Al­lein et­was ist fer­tig in mir und will hin­aus­ge­stellt sein, will als ein an­de­res ne­ben mir ste­hen. Ich muss es auf die Arme neh­men, wie die Mut­ter das Kind, das sie ge­bo­ren hat.

Gut! Ich woll­te mein Buch schrei­ben und rich­te­te mein Le­ben da­nach ein. In sol­chen Zei­ten müs­sen wir un­ser Le­ben so ord­nen, wie es Frau­en tun, die gu­ter Hoff­nung sind und wis­sen, dass sie nun nicht mehr nur für sich al­lein le­ben. Der Hoch­som­mer ist eine güns­ti­ge Jah­res­zeit. Die Stra­ße vor mei­nen Fens­tern ist still und voll grell­gel­ben Son­nen­scheins. Hun­de lie­gen auf den hei­ßen Stei­nen, stre­cken alle Vie­re von sich und schla­fen. Kin­der sit­zen auf den Schwel­len der Hau­stü­ren, die Hän­de um die nack­ten Bei­ne ge­schlun­gen und sind in der Hit­ze auch still und schläf­rig ge­wor­den. Die we­ni­gen Passan­ten drücken sich die schma­len Schat­ten­strei­fen an den Dach­vor­sprün­gen ent­lang. Die­ser un­er­träg­lich flim­mern­den Welt mit ih­rem hei­ßen, un­rei­nen Atem seh’ ich es so­fort an, dass ich in ihr nichts zu ver­säu­men habe.

Ich zie­he die gel­ben Vor­hän­ge vor mein Fens­ter, das gibt eine an­ge­neh­me gol­di­ge Däm­me­rung. Hie und da sticht durch eine Spal­te ein schar­fer, blan­ker Son­nen­strahl in die Däm­me­rung, und in die­sem Son­nen­strahl krei­sen ei­ni­ge Flie­gen brum­mend und un­er­müd­lich um­ein­an­der.

Ich höre das gern. Die­se end­lo­se übel­lau­ni­ge klei­ne Ge­schich­te, die sie sich er­zäh­len, be­ru­higt mich. Im Klub hat­te ich ge­sagt, dass ich ver­rei­se. Jo­sef hat­te den Be­fehl, kei­nen Be­such vor­zu­las­sen. Die meis­ten wa­ren ja oh­ne­hin fort aus der Stadt, wer soll­te kom­men! Mit Frau Mei­ri­ke hat­te ich ein Ge­spräch über den Kü­chen­zet­tel. In die­ser Zeit muss­te sie die schwe­ren, feu­ri­gen Sup­pen ver­mei­den, die sie so gut zu ma­chen ver­steht und die ich so gern esse. Mehr Bouil­lon, viel Ge­flü­gel, Spar­gel, zu­wei­len einen Fisch. Ei­nen leb­haf­ten Mo­sel habe ich mir für die­se Zeit an­ge­schafft. Der Schnei­der brach­te den An­zug aus blau­em Som­mer­fla­nell, ganz lose ge­macht. Mit Blu­men in den Zim­mern war ich vor­sich­tig, in mei­nem Ar­beits­zim­mer durf­ten kei­ne ste­hen. Aber im Ne­ben­zim­mer stand eine Scha­le vol­ler Zen­ti­fo­li­en, die­se ge­sun­den ro­ten Ku­geln, die einen fri­schen, star­ken Ro­sen­duft ha­ben, nicht die per­ver­se Mi­schung mit Tee oder Va­nil­le oder Ze­der­holz­düf­ten. Die bes­te Ar­beits­zeit ist der Vor­mit­tag. Nach­mit­tags zur Zi­gar­re muss­te ich et­was le­sen (statt der großen schwe­ren Hen­ry Clay rauch­te ich jetzt eine klei­ne blon­de Bock) und dazu hat­te ich den Li­vi­us ge­wählt. Der wür­de mich nicht stö­ren und er­zählt mit so schön be­ru­hi­gen­der Stim­me. Und al­les, was ge­schieht, er­scheint so or­dent­lich für sei­nen Zweck zu­ge­schnit­ten, wie die Holz­stück­chen ei­nes Ge­duld­spie­les, die ja doch alle in­ein­an­der pas­sen, um das Bild, die Grö­ße des Rö­mi­schen Rei­ches zu ge­ben. Das ver­leiht ein an­ge­nehm ge­ord­ne­tes Ge­fühl, da­bei kann man den Kopf nach hin­ten sin­ken las­sen und die Au­gen schlie­ßen … die Ge­dan­ken ver­ge­hen … Die­se De­ci­us mit der Fa­mi­li­e­nei­gen­tüm­lich­keit – sich zu op­fern – wie die Gicht in an­de­ren Fa­mi­li­en – sehr – ari­sto­kra­tisch. – Das ist sehr er­fri­schend. Wenn ich er­wa­che, dann kann ich wie­der bis zum Abend ar­bei­ten.

Wenn es un­ten auf der Stra­ße leb­haft wird, die Kin­der zu lär­men be­gin­nen, ein Ge­schwirr ganz ho­her schril­ler Stim­men wie von ei­ner Schar be­trun­ke­ner Vö­gel, und wenn bun­te Abend­lich­ter aus dem Ne­ben­zim­mer in mein Schreib­zim­mer kom­men, wenn der wei­ße Gips­kopf der Ma­ri­et­ta Stroz­zi er­rö­tet – dann ma­che ich mei­nen Spa­zier­gang – der Ge­sund­heit we­gen. Die Luft in den Stra­ßen ist eine be­drücken­de, stau­bi­ge Zim­mer­luft. Die Vor­stadt ist un­er­träg­lich mit ih­ren grau und rot ge­streif­ten Über­bet­ten, die sich in den ge­öff­ne­ten Fens­tern lüf­ten, mit ih­ren hei­ßen, damp­fen­den Men­schen. Drau­ßen set­ze ich mich in einen der klei­nen Bier­gär­ten. Das Buch spricht in mir wei­ter, und über mei­nem Schop­pen hin­weg sehe ich die Men­schen und die bun­ten Pla­ka­te an den Bäu­men und die Rad­fah­rer wie fer­ne frem­de Bild­chen, die mich nichts an­ge­hen. Wenn die La­ter­nen an­ge­steckt wer­den, bleich und gla­sig in der Däm­me­rung, gehe ich heim, und die gan­ze Nacht liegt vor mir für die Ar­beit. Ich kann das Fens­ter an mei­nem Schreib­tisch öff­nen. Un­ten auf der Stra­ße wird es im­mer stil­ler – ein »gute Nacht« höre ich zu­wei­len und das Zu­schla­gen der Haus­tür. Die Lich­ter in den Fens­tern er­lö­schen. Dort über die nied­ri­gen Dä­cher ragt ein hö­he­res Haus. Dort im vier­ten Stock ent­klei­det sich ein Mäd­chen bei of­fe­nem Fens­ter. Das Vier­eck des Fens­ter­rah­mens ist voll des gel­ben Lam­pen­lichts, und ich sehe eine wei­ße Ge­stalt, die vor ei­nem Spie­gel steht und ihr lan­ges, sehr schwar­zes Haar em­por­hebt, um es auf dem Schei­tel auf­zu­bin­den. Dann er­lischt auch die­ses Licht, und ich bin mit mei­nem Buch al­lein.

Ich habe mir für das Ma­nu­skript ein sehr ed­les Pa­pier an­ge­schafft, leicht gelb­lich ge­tönt, glanz­los, die he­ral­di­sche Li­lie als Was­ser­zei­chen. Auf dem Um­schlag habe ich mit veil­chen­far­be­ner Tin­te den Ti­tel ge­schrie­ben: »Die gol­de­ne Ket­te« – dar­un­ter den Vers der Ili­as, über den Pla­to so ge­heim­nis­voll spricht:


»Auf, wohl­an, ihr Göt­ter, ver­sucht, dass ihr all’ es er­kennt!
Eine gol­de­ne Ket­te be­fes­ti­gend oben am Him­mel
Hängt dann all’ ihr Göt­ter euch an und ihr Göt­tin­nen alle,
Den­noch zö­get ihr nie vom Him­mel her­ab auf den Bo­den!«

So muss es ge­hen.

4. Au­gust

Klei­ne, ver­nach­läs­sig­te Ver­pflich­tun­gen kön­nen sehr stö­rend wer­den. Wir wol­len sie ver­nach­läs­si­gen, wir wol­len sie ver­ges­sen, aber sie ha­ken sich in uns fest, mel­den sich mit klei­nen flüch­ti­gen Sti­chen. Sie sind läs­tig wie die Som­mer­flie­gen, die wir im­mer ver­trei­ben und die sich im­mer wie­der uns ins Ge­sicht set­zen. Das ist nicht Pf­licht­ge­fühl – nur eine Un­voll­kom­men­heit in un­se­rem Vor­stel­lungs­me­cha­nis­mus.

Solch eine läs­ti­ge klei­ne Ver­pflich­tung ist mir heu­te zu­ge­fal­len.

Ich ging nach dem Es­sen aus, um mir eine gol­de­ne Fe­der zu kau­fen. Die Stra­ße war wie ein über­heiz­ter, stau­bi­ger Kor­ri­dor. Kaum ein Mensch, dem ich be­geg­ne­te, nur Hun­de, alte Schuh­soh­len, Pa­pier­fet­zen sonn­ten sich auf den hei­ßen Pflas­ter­stei­nen. Wie ich um die Ecke bie­ge, fährt ein Wa­gen an mir vor­über, ein hüb­scher, klei­ner Korb­wa­gen mit zwei fal­ben Po­nys be­spannt. Ein auf­fal­len­der...