: Christoph Hein
: Libretti
: Suhrkamp
: 9783518737941
: 1
: CHF 18,00
:
: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 164
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Libretti, von prominenten Literaten verfasst, entstehen in der Regel als Auftragsarbeiten: ein Theater, ein Komponist, ein Regisseur beauftragen einen Schriftsteller, eine sogenannte »Vorlage« für eine Vertonung zu schreiben. Was sich, derart betrachtet, als zufälliges Zusammentreffen zweier Interessen gilt, gewinnt, bei näherer Betrachtung eine gewisse Notwendigkeit. Sie ergibt sich aus dem unbedingten Willen einer der beteiligten Seite, aus den unterschiedlichsten Gründen, sich auf eine schwierige, ungewohnte Kooperation einzulassen. Bei der OperNoachvon Sidney Corbett kam zu dieser Zusammenarbeit aufgrund einer bloßen Zeitungslektüre: 1993 las der Komponist das Inhaltsreferat einer Erzählung von Christoph Hein. »Das war im Jahr 1993. Zu dieser Zeit hatte ich nicht die geringste Absicht, eine Oper zu schreiben. Doch auf einmal hörte ich eine Stimme in mir, die mir sagte, diese Geschichte könne der Stoff für eine Oper sein. Ich schrieb Christoph Hein und fragte ihn, ob er sich vorstellen könnte, nach dieser Erzählung ein Opernlibretto zu schreiben, was er mit einem zögerliche jein beantwortete.« Aus einer (einmaligen) Gelegenheit entstand ein (einmaliges) Kunstwerk.



<p>Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle<em>Der fremde Freund / Drachenblut</em>.<br /> Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis. Seine Romane sind<em>Spiegel</em& t;-Bestseller.</p>

1.

eine Bühne

TILLA EINSsitzt in einem Sessel Hallo? Hallo, ist da jemand? — Wo sind sie denn alle? Mein Gott, eben war die Bühne doch voller Leute. — Herr Intendant? Ist denn da keiner? — Mein Gott, eben war ich noch der Mittelpunkt, und jetzt? Haben wohl alle viel zu tun.

Es war eine schöne Feier. Sehr würdevoll. Und schön haben sie gesprochen, sehr schön. Mein Gott, was haben die zusammengelogen. Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man glauben, die haben mich ihr Leben lang verehrt. Diese Heuchler.

Und wer nicht alles gekommen ist! Der oberste Bürgermeister! Sogar ein Minister! Nur der Kanzler ist nicht erschienen. Ließ sich entschuldigen. Schickte eine Grußadresse. Der Vorstand vom Bühnenverein war vollständig angetreten, immerhin. Eigentlich waren alle da. Und wo sind sie jetzt? Haben wohl alle schon den nächsten Termin. Für die nächsten Lügen.

Gefehlt haben eigentlich nur Ludwig und Paul. Das ist schade. Die beiden hätte ich gern dabeigehabt. Aber vielleicht haben sie zugeschaut. Von da oben, man weiß ja nie. Ludwig hätte zu alldem nur still gelächelt und sich seinen Teil gedacht. Doch Paul, na, der hätte einen Skandal gemacht, das liebte er. Da wäre er wieder in seinem Element.

Ich glaube nicht, dass sich heute noch einer an Paul erinnert, an Paul Cassirer. Aber wer weiß, ich dachte auch nicht, dass sich noch einer an mich erinnert. Ich war einmal berühmt und bekannt. Ich war ein Star, ein Mega-Star, wie es heute heißt. Tout Berlin kannte mich, ganz Deutschland. Ich trat überall in Europa auf, in Wien und Prag, in St. Petersburg, in Sizilien, überall.

Meine Beziehung mit Paul begann mit einem Blitzschlag. Und zwanzig, einundzwanzig Jahre später hörte sie mit einem Blitz und einem Donnerschlag auf.

Als wir uns vorgestellt wurden, war Paul dreiunddreißig, ich war gerade vierundzwanzig.

TILLA ZWEItritt auf Ich war gerade vierundzwanzig, als mir Paul vorgestellt wurde. — Paul! Paul! — Die schönste Zeit meines Lebens

TILLA EINS Meine Geschichte mit Paul stand damals in allen Blättern. Sehr schmeichelhaft war es nie. Jedenfalls nicht für mich. Will man der Presse glauben, dann war Paul der gute, der generöse, der seriöse Mann. Der Held der Kunst und Geschäftswelt, der große Impresario, der Retter der Secession. Und ich?

TILLA ZWEI Ich war, nun ja, ich war das Flittchen. Ein Parvenü, eine ehrgeizige, ausgeschamte Person, die sich an Paul gehängt hatte, um nach oben zu kommen.

TILLA EINS Das schrieben diese Pressebengels so oft, bis schließlich tout Berlin es glaubte. Und in München und Hamburg war es nicht anders.

Ich glaube, die hatten nichts anderes zu schreiben. Der Weltkrieg war vorbei, sie hatten nichts zu schreiben, und so stürzten sie sich auf Paul und mich.

Aber es war alles ganz anders. Nicht wahr?

TILLA ZWEI Es war alles ganz anders. Es begann anders, es endete anders. Als er mich für immer verließ, war ich sechsundvierzig. Wir waren einundzwanzig Jahre zusammen. Schöne Jahre, schlimme Jahre.

Kennengelernt habe ich Paul bei einer kleinen Abendgesellschaft.

TILLA EINS Ich trug eine knallrosa Bluse, etwas sehr auffällig, aber damals besaß ich kaum Garderobe. Alles ging für die Bühnenkostüme drauf, die mussten wir ja selbst bezahlen.

Aber es war nicht die rosa Bluse, es war einfach ein Blitzschlag.

TILLA ZWEI Ein Blitzschlag.

Paul geht über die Bühne, sieht Tilla an

PAUL Nun bleibst du bei mir. Für alle Zeit.geht ab

TILLA EINS Paul? — Bist du das, Paul?

TILLA ZWEI Bist du das schon wieder, Paul? Kannst du das nicht lassen? Du bist tot, Paul. Begreife es endlich. Es war schwer genug für mich.

TILLA EINS Damals, an diesem Abend, hatten wir nur Augen für einander. Wenn er es gewollt hätte, ich hätte schon an diesem allerersten Abend nicht Nein gesagt.

TILLA ZWEI Nicht Nein sagen können. Es wurde eine wunderbare Zeit. Die schönste Zeit meines Lebens.

2.

Jannings' Haus

eine antiquierte Türklingel läutet

EMIL Ich komme. Ich komme.

JÖRG Ich bin es, Onkel. Ich bin es, der Jörg.

EMIL Ja, holla ho. Herein, alte Krampe.

Du kommst in einem guten Moment. An einem guten Tag.

JÖRG Ein guter Tag? Wien hat zugesagt?

EMIL Nein.

JÖRG München?

EMIL Falsch. Ganz falsch.

JÖRG Sag schon.

EMIL Sei nicht so ungeduldig. Wie geht es den Eltern?

Na, ich weiß schon. Es ist überall das Gleiche.

Eine große neue Zeit hat begonnen mit neuen großen Spitzbuben.

Nichts Neues unter der Sonne.

Bist du mit der Bahn gekommen?

JÖRG Mit dem Fahrrad.

EMIL Natürlich mit dem Fahrrad. Die Jugend fährt Fahrrad.

Jetzt brauchst du erst einmal eine Erfrischung. Eine Limonade?

ruft Gussy, der Jörg ist da. Lass uns doch etwas zu trinken bringen. Für den Jungen eine Limonade und für mich einen Viertel Roten.

zu Jörg Schau dir den See an, Junge.

Mit den Bäumen und dem St. Wolfgang am anderen Ufer.

Die reinste Theaterdekoration.

So friedlich, nicht wahr?

Aber lass dich von dem alten See nicht täuschen, Junge.

Er ist ein Hundsfott, ein Aas.

Ach, unser Herrgott ist ein vorzüglicher Bühnenbildner.

– Was macht die Schule, Jörg?

JÖRG Keine Probleme. Aber ich bin froh, wenn ich das alles hinter mir habe.

EMIL Was weißt du schon, was du im Leben brauchst.

Hätte ich deinen Englischunterricht gehabt, wäre ich in Hollywood geblieben.

Du sprichst doch sicher akzentfrei, wie?

Mein Englisch hört sich an, als käme ich aus der Bronx,

letzter Hinterhof, hat mir der Chaplin gesagt.

JÖRG Ich will Schauspieler werden.

EMIL Nu, nun wollen sie alle Schauspieler werden.

Seit es den Film gibt, wollen alle jungen Leute Schauspieler werden.

Ruhm und Geld.

So einfach ist das nicht.

Viele fühlen sich berufen, aber nur wenige sind auserwählt.

Woher willst du wissen, dass du es schaffst?

JÖRG Ich habe gestern die erste Aufnahmeprüfung bei der Schauspielschule in München bestanden.

EMIL Na, dann gratuliere ich dir.

Meinst wohl, du bist jetzt schon sonst was, wie?

Schauspielschule!

Was glaubst du denn, was sie dir dort beibringen können?

Fechten und tanzen und reiten. Na ja.

Grimassenschneiden. Wie?

JÖRG Nein, Emil …

EMIL Die Schmiere, das ist die Schule des Schauspielers.

Geh über die Dörfer, spiel den Striese in Dorfkneipen.

JÖRG Das ist heute anders als bei dir damals, Emil.

Heute gibt es Schauspielschulen.

Und man bekommt kleine Rollen am Theater zu spielen und beim Film.

EMIL Schauspieler sein, das ist etwas anderes.

Du musst ein Gesicht haben und einen Charakter.

Und dein Charakter muss im Gesicht zu sehen sein.

Schauspieler, da gibt es nicht viele in Deutschland.

In aller Bescheidenheit: es gibt nur zwei, den Krauss und mich.

Der Rest,...