Kapitel 2Das Piratenschiff auf dem Parkplatz
»Von einem Dinosaurier stammt er jedenfalls nicht«, sagte Marrill. Sie drehte den alten, verwitterten Knochen in der Hand hin und her und wischte sich mit dem Handrücken über die nasse Stirn. Drei siebenjährige Jungen blickten erwartungsvoll zu ihr auf. Die Sonne brannte heiß vom Himmel Arizonas herunter, und die Sohlen ihrer Flipflops schienen zu schmelzen. »Ich tippe auf eine Kuh«, fügte sie hinzu.
Schlagartig hörten die Jungen auf zu lächeln und runzelten die Stirn.
»Woher willst du das wissen?«, fragte der Älteste, Tim (oder Ted?). Sie standen auf der berühmten archäologischen Grabungsstätte der Hatch-Drillinge, besser bekannt als leerer Parkplatz am hintersten Ende des Viertels mitten im Nirgendwo.
Die Drillinge hatten sich an Marrill gewandt, weil die sich mit solchen Dingen auskannte. Schließlich hatte sie im vergangenen Jahr zusammen mit ihren Eltern drei Monate auf einer Ausgrabung in Peru verbracht. Dort hatten sie die Überreste eines Vogels zutage gefördert, der so groß war, dass er ganze Pferde als Snack hätte verspeisen können. Ihr Dad hatte darüber eine Dokumentation geschrieben, ihre Mom hatte Marrill mit einem Schnabel in der Hand fotografiert, der so groß war wie ihr Kopf. Das Foto hing inzwischen schon in einem Museum des Smithsonian.
»Weil es nur ein Knochen ist«, sagte sie sachlich. »Der von einem Dinosaurier wäre versteinert.«
Sie erwiderte den Blick des jüngsten Hatch, Tom (oder Tim?). Er hatte die Unterlippe vorgeschoben, und die Enttäuschung stand ihm überdeutlich ins Gesicht geschrieben. Seine Brüder machten ähnliche Gesichter.
Marrill bekam Gewissensbisse. Die drei hatten auf eine große Entdeckung gehofft, und sie hatte ihnen die Freude mit der langweiligen Wirklichkeit verdorben. Sie kannte dieses Gefühl nur zu gut. Aber dank der Berufe ihrer Eltern erlebte sie ständig coole Abenteuer und würde bald zum nächsten aufbrechen. Die Hatch-Jungs dagegen mussten sich selbst eins erfinden, und jetzt hatte sie ihnen auch noch das kaputtgemacht.
Marrill betrachtete den Knochen genauer und schürzte die Lippen. »Allerdings, wenn ich mir das genau überlege …« Sie verstummte und schüttelte den Kopf. »Nein, unmöglich.«
»Was denn?«, fragte der Jüngste der drei. Seine Miene hatte sich im Nu aufgehellt.
»Na ja …« Marrill hockte sich hin und strich abwesend mit den Fingern über den Boden. »Als ich letztes Jahr in Peru war, hörte ich so ein Gerücht, dass an allen möglichen Orten Überreste von Drachen auftauchen würden. Ein so kleiner Knochen müsste natürlich zu einem Drachenbaby gehören, aber …«
Der mittlere Hatch (Marrill war sich ziemlich sicher, dass er Tim hieß) runzelte die Stirn. »Drachen gibt es doch gar nicht.«
»Da ist das peruanische Drachenforschungszentrum aber anderer Meinung«, erwiderte Marrill mit einem Schulterzucken. »Obwohl man natürlich noch weitere Knochen finden müsste, um das zu beweisen …« Sie warf den Knochen Ted (Tom?) zu, stand auf und wandte sich zum Gehen. Als sie noch einmal über die Schulter blickte, sah sie, wie die drei sich über den Knochen beugten und aufgeregt diskutierten.
Grinsend bog sie in die Straße ein, in der ihre Großtante gewohnt hatte. Als sie das Haus sah, blieb sie abrupt stehen. Das Verkaufsschild, das wochenlang im Garten gestanden hatte, war verschwunden.
Marrills Herz begann aufgeregt zu klopfen. Seit dem Tod ihrer Großtante vor einigen Monaten hingen sie hier in Phoenix fest. Ihre Eltern hatten die letzte Expedition abgebrochen, um den Nachlass zu regeln. Inzwischen war nur noch das Haus übrig. Marrill hatte täglich gehofft, dass am unteren Rand des Maklerschilds endlich ein kleines weißes »Verkauft«-Schild hängen würde. Und war täglich aufs Neue enttäuscht worden.
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