»Tim möchte auch ein Fahrrad haben. Tim ist schon groß. Tim kann schon mit Fahrrad fahren.« Der kleine blonde Bub stand stämmig und sehr selbstbewusst vor Schwester Regine. »Ich bin schon fast so alt wie Heidi«, fügte er energisch hinzu.
Schwester Regine musste unwillkürlich lächeln. Sie kniete vor dem Knirps nieder. »Das stimmt aber nicht, Tim. Du weißt doch, dass du erst deinen zweiten Geburtstag gefeiert hast, und unsere Heidi ist schon ein großes Mädchen. Sie wird bald in die Schule gehen. Hast du das vergessen?«
»Tim möchte auch bald in die Schule gehen. Dann kann Tim auch mit einem richtigen Fahrrad fahren.«
»Da wirst du dich noch ein bisschen gedulden müssen«, meinte die Kinderschwester belustigt und nahm den Buben liebevoll auf den Arm. »Was bist du schwer geworden! Ich glaube, ich kann dich kaum noch tragen«, scherzte sie.
»Tim ist auch schon groß. Er hat heute seinen ganzen Brei aufgegessen, und davon wird man groß und stark, sagt Tante Isi. Bekomme ich nun ein richtiges Rad wie Pünktchen, Fabian und Heidi?«
»Du bist aber wirklich ein hartnäckiger kleiner Bursche.« Lachend ließ Schwester Regine den kleinen Jungen wieder auf den Boden gleiten. »Als Pünktchen, Fabian und Heidi so alt waren wie du, hatten sie auch noch kein richtiges Fahrrad, sondern ein Dreirad, genau wie du. Und dein Dreirad ist ganz besonders schön, meine ich. Alle finden es sehr schön. Du weißt doch, dass dein Vater es dir zu deinem Geburtstag geschickt hat.«
Bei diesen Worten beobachtete die junge Kinderschwester den Kleinen gespannt, aber er zeigte bei der Erwähnung seines Vaters keinerlei Regung, weder eine freudige noch eine traurige. Der Vater schien dem Kind nichts mehr zu bedeuten, es schien keine Erinnerung mehr an ihn zu haben. Ein Wunder war das nicht, denn schließlich lebte Tim jetzt schon mehrere Monate in Sophienlust, und in dieser Zeit hatte sein Vater ihn nicht ein einziges Mal besucht.
Schwester Regine dachte auch an den Scheck, der zu Tims Geburtstag für den Jungen in Sophienlust eingegangen war, und zwar mit der Bitte, dem Kind dafür etwas zu kaufen. Denise von Schoenecker hatte daraufhin das Dreirad gekauft, das sich Tim schon lange gewünscht hatte. Es war jedoch noch viel Geld übrig geblieben, denn der Scheck hatte einen hohen Betrag ausgewiesen. Tims Vater war kein armer Mann. So war dann für Tim noch Kleidung angeschafft worden, denn er war in der letzten Zeit sehr gewachsen.
Daran konnte Schwester Regine nicht ohne Bitterkeit denken. Sie konnte einfach nicht begreifen, dass sich der Vater nicht mehr um seinen kleinen Sohn kümmerte. Mit Geld allein konnte man im Leben wirklich nicht alles gutmachen. Wie glücklich wären manche Erwachsene, wenn sie ein so hübsches und gesundes Kind, wie Tim es war, hätten. Außerdem war Tim auch ein sehr aufgewecktes und ungewöhnlich intelligentes Kind. In Sophienlust mochte ihn jeder gern. Es war zurzeit das jüngste Kind im Kinderheim, und Schwester Regine musste aufpassen, dass er von den größeren Kindern nicht gar zu arg verwöhnt wurde.
»Hatten Heidi und Pünktchen kein so schönes Dreirad wie Tim?«, fragte der Kleine und zupfte die Kinderschwester energisch an ihrer Kittelschürze.
Schwester Regine schreckte aus ihren Gedanken auf und beugte sich wieder lächelnd zu Tim hinab. »Ich glaube nicht, denn dein Dreirad ist ganz besonders schön. Weißt du, auf Heidis Dreirad sind vorher schon viele andere Kinder gefahren. Jetzt ist es schon recht alt und klapprig. Es steht im Keller in einer Ecke. Wenn ich mal Zeit habe, dann gehen wir in den Keller und sehen es uns an.«
»Können wir nicht jetzt gehen? Tim möchte das alte Dreirad gern sehen.«
»Jetzt geht es nicht, Tim. Ich muss jetzt zu Tante Isi. Wir haben etwas zu besprechen.«
Tim verzog schmollend den Mund. »Immer hast du keine Zeit für Tim.«
Schwester Regine seufzte bekümmert. »Leider, Tim. Leider habe ich viel zu wenig Zeit für dich und auch für die anderen Kinder.«
»Tim möchte aber, dass du immer für Tim Zeit hast, den ganzen Tag.«
»Das geht nicht. Das weißt du doch. Spiele jetzt noch ein bisschen, oder fahre mit deinem Dreirad. Bald kommen die Kinder aus der Schule.«
»Tim will nicht allein spielen. Heidi hat Halsweh und muss im Bett bleiben. Dann geht Tim jetzt zu Magda in die Küche.« Damit