1. Kapitel
Freitag, 16. Dezember
Im »Brides by the Sea«: Ehrenwort und Nixenflossen
»Lass das ›Geschlossen‹-Schild erst mal dran, Sera.«
Jess, meine Chefin und Mentorin, denkt wie immer voraus. Sie spricht über die Schulter mit mir, während sie die Tür von »Brides by the Sea«, dem beliebtesten Brautladen in Cornwall, aufschließt. Ich habe das unverschämte Glück, hier zu arbeiten.
Jeden Tag, wenn ich an den Efeugirlanden und Tüllkaskaden im weihnachtlich dekorierten Fenster vorbeikomme, kriege ich eine Gänsehaut, und das hat nichts mit dem eisigen Dezemberwind zu tun, der über die Bucht von St. Aidan fegt. Mir ist klar, dass die meisten Bräute von einer Hochzeit im Sommer träumen, aber wenn ich die schwebenden Schneeflockenwirbel und die glänzenden Pailletten auf den weißen Spitzenkleidern sehe, verstehe ich nur zu gut, warum meine Schwester Alice es sich in den Kopf gesetzt hat, Weihnachten zu heiraten. Nicht mal mehr eine Woche, dann werden nicht weniger als hundertfünfzig Gäste anlässlich dieser Hochzeit vier Tage lang ein wunderschönes Herrenhaus in Cornwall bevölkern. Ja, es ist exakt so gigantisch und ambitioniert, wie es klingt. Nur ein Energiebündel wie Alice kann auf so eine Idee kommen. Ob alles gelingt … Wir werden sehen.
Gestern hatten wir unsere Weihnachtsfeier, genauer gesagt eine Party mit haufenweise Drinks. Heute Morgen ist wieder Alltag, doch hinter den silbernen Kugeln, die im Schaufenster glitzernd die Lichter der Weihnachtsdeko spiegeln, warten noch die Überbleibsel des Vorabends. Die Luft in der Eingangshalle umfängt uns warm. Ich linse ins Weiße Zimmer hinein, wo wir gefeiert haben – und bin geschockt.
»Ach du meine Güte, als wäre da drin eine riesige Konfettikanone explodiert.« Ich stoße einen langen Pfiff aus, um meinen Schreck über das Chaos zu überspielen. Mit Blick auf die Anzahl der Gläser könnte man meinen, wir hätten die ganze Stadt eingeladen und nicht nur ein paar enge Freunde des Geschäfts.
Als ich mich bücke, um einen Cashewkern zwischen den Bodendielen herauszupulen und das Licht des Weihnachtsbaums einzuschalten, der in der Eingangshalle steht, hämmert mein Kopf. Beim Aufrichten streife ich die Zweige des Baumes, wodurch die geweißten Tannenzapfen wackeln und ein paar Schlittenglöckchen bimmeln. Ich hebe ein Glas auf und schaue hinein. Am Boden siechen ein paar Himbeeren vor sich hin. Bäh, echt eklig. Bei Jess gibt es eine eiserne Regel und die lautet: Im Ladenbereich keine farbigen Getränke! Waren wir wirklich dermaßen im Weihnachtstaumel, dass wir die Regel gebrochen haben und zu rotem Punsch übergegangen sind? Offenbar nicht nur das: Wir waren leichtsinnig genug, exotische Früchte in unsere Ruby-Duchess-Cocktails zu geben – direkt neben den vielen wunderschönen und kostbaren weißen Kleidern!
»Nach diesem fantastischen Jahr hatten wir wirklich einigen Grund zum Feiern, Sera.« Für jemanden, der bis vier Uhr früh auf einer After-Party war und gerade seinen wichtigsten Verkaufsraum völlig verwüstet vorgefunden hat, ist Jess bemerkenswert guter Dinge.