: Tim Tichatzki
: Roter Herbst in Chortitza Nach einer wahren Geschichte
: Brunnen Verlag Gießen
: 9783765575082
: 1
: CHF 4.40
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 464
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
1919. Ein Bürgerkrieg fegt mit aller Gewalt über das zerfallene Zarenreich. Gefangen zwischen den Fronten, finden die beiden Freunde Willi und Maxim ein von Soldaten zurückgelassenes Maschinengewehr. Für Maxim ein Geschenk des Himmels, für Willi die größte Herauforderung seines Glaubens, denn als Sohn mennonitischer Siedler hat er gelernt, jede Form von Gewalt abzulehnen. Eine Zerreißprobe für die Freundschaft der beiden Jungs. Während Willis Familie in der aufkommenden Sowjetdiktatur ums nackte Überleben und um ihren Glauben kämpft, schlägt sich Maxim ausgerechnet auf die Seite des Regimes. Beide wissen nicht, ob sich ihre Wege je noch einmal kreuzen werden. Zwei Lebenswege inmitten der sowjetischen Diktatur, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Tim Tichatzki blickt in eines der dunkelsten Kapitel europäischer Geschichte, und erzählt zugleich ein Stück eigener Familiengeschichte. Schonungslos, packend und herzergreifend zu lesen.

Tim Tichatzki, Jahrgang 1974, ist Diplomvolkswirt und lebt mit seiner Familie in Köln.

Juri und Maxim Orlow


Osterwick 1919


An diesem Abend lag Willi noch lange wach in seinem Bett. Das Maschinengewehr ging ihm nicht aus dem Kopf. Er wunderte sich, dass ihnen bei ihrer Rückkehr keine Fragen gestellt wurden, obwohl jeder im Dorf das laute Rattern des MGs gehört haben musste. Doch die Osterwicker schienen sich nicht dafür zu interessieren. Entweder waren sie schon so sehr an den Klang von Gewehrsalven gewöhnt, dass sie diese ignorierten, wenn die Schüsse nicht in unmittelbarer Nähe abgefeuert wurden – oder sie hatten tatsächlich nichts mitbekommen.

Willi konnte Maxim glücklicherweise überreden, ihren Fund erst einmal geheim zu halten, da er die andauernde Diskussion über denSelbstschutz nicht unnötig belasten wollte. Viel Weisheit für einen Zwölfjährigen, der die Befindlichkeiten der Mennoniten besser kannte als Maxim. Seit Wochen sprach man im Dorf über kein anderes Thema mehr, ohne dass eine Einigung in Sicht gewesen wäre. Die Differenzen schienen unüberwindbar, was ein Eingreifen des Brüderrats umso dringlicher machte. Heute Abend – so hoffte Willi – würden sich die Männer Osterwicks endlich darüber beraten.

Seit Ausbruch der Revolution tobte in weiten Teilen des ehemaligen Zarenreichs ein Bürgerkrieg, dessen Fronten sich mittlerweile auch quer durch die Ukraine zogen. Auf der einen Seite stand die Rote Armee, die versuchte, die Revolution zu vertei