JONATHAN BOYARIN
FAMILIEN: GESTERN, HEUTE – UND MORGEN?
Was, wenn überhaupt etwas, ist an der Untersuchung der jüdischen Familie besonders? Auf diese Frage gibt es ein paar gute Antworten. Erstens waren Juden und die von ihnen hinterlassenen Dokumente nicht nur Teil der Welten, in denen sie lebten, sondern häufig erlaubten diese auch einen eingehenden Blick auf sie: Selbst wenn die in diesen Dokumenten hervortretenden Menschen bezeichnend für ihre Zeit und ihren Ort sind, so können wir dieses Bild oft doch nur wahrnehmen, weil die Texte geschrieben wurden, um jüdische Identität und Gemeinschaft zu erhalten, und weil die Texte wegen der ausgeprägten jüdischen Wertschätzung des Lernens und der Schriftlichkeit überliefert wurden. Zweitens fasziniert und lohnt die Beschäftigung mit Juden nicht nur, wenn es darum geht, worin sie sich von anderen unterscheiden, sondern auch, weil sie es in ganz unterschiedlichen Umgebungen geschafft haben, wie Juden aus anderen Zeiten und Orten zu sein, und zugleich wie die Nicht-Juden ihrer eigenen Zeiten und Orte.
Shaya Cohen, Professorin in Harvard, mutmaßt, das römische Recht habe ein charakteristisches Merkmal jüdischer Familienstrukturen beeinflusst: die Weitergabe des Judentums durch die Mutter, nicht durch den Vater. Einerseits scheint diese Regel im Judentum selbstverständlich, andererseits war sie nicht immer Bestandteil der jüdischen Gesellschaft, wie Cohen feststellt. Sie findet sich auch nicht in der Bibel, denn dort werden mehrere israelitische Män15ner erwähnt, die »fremde« Frauen heiraten, ohne dass ihre Kinder aus der jüdischen Familie ausgeschlossen werden.
Cohen vertritt die Auffassung, die Feststellung der jüdischen Zugehörigkeit über die Mutter leite sich aus der Mischna ab. Der Autor findet eindeutige Beweise für den Einfluss der entsprechenden römischen Rechtsvorschriften und auch für eine mögliche Erweiterung biblischer Gebote, die die Vermischung unterschiedlicher Klassen von Tieren und Pflanzen untersagen. »Warum also haben die Rabbiner mit der vorher üblichen [also biblischen und späteren] Praxis gebrochen? Ich weiß es nicht.«1 Cohen zufolge könnte der Grund vielleicht eher in intellektuellen Klassifizierungsübungen der Rabbiner als in den gesellschaftlichen Erfordernissen jener Zeit liegen.
Allerdings sollte man sich die Rabbiner nicht als reine und über jeden sozialen Zwang erhabene Intellektuelle vorstellen. InThe Culture of the Babylonian Talmud entwirft Jeffrey Rubenstein ein Bild dieser heute nicht mehr namentlich bekannten Gelehrten, zu deren Zeit der endgültige Text des Talmud festgelegt wurde. Er betont die erstaunlich enge Verbindung zwischen der Autorität, wenn es um die Torah geht, und den Erhabenen, speziell denen von priesterlicher Herkunft. Laut Rubenstein hatte die große Bedeutung der »guten Abstammung« als Qualifikation der führenden Gelehrten viel mit der Judenheit in der babylonischen Diaspora zu tun: »Seit ihren ersten Anfängen scheint die jüdische Gemeinde in Babylon eifersüchtig über ihre Abstammung gewacht zu haben, um die Assimilation mit der größeren Gesellschaft zu verhindern.«2 Offensichtlich reichte es in dieser Welt nicht aus, wen man »jüdisch heiratete«, es empfahl sich außerdem, Ehen mit den »richtigen Familien« zu arrangieren. Rubenstein vermutet allerdings, dass die große Bedeutung für die Abstammung auch »den Wert des ed16len Blutes in der persischen Kultur« ausdrückte.3 Diese beiden Behauptungen – dass das jüdische Interesse an einer guten Genealogie im tiefen Wunsch begründet sei, die Trennung der jüdischen Gemeinde aufrechtzuerhalten, und dass es den Werten der nicht-jüdischen Umwelt entspreche – mögen logisch widersprüchlich erscheinen. Aber in der realen Welt erscheinen beide in ihrer Bedeutung völlig plausibel.
Die im Talmud bestehende Spannung zwischen der verdienstvollen Abstammung und dem durch Torah-Gelehrsamkeit errungenen individuellen Verdienst bildet sich in dem komplexen Begriffyikhes oder »Verbindung« ab, womit gesellschaftliche Unterschiede und Heiratsaussichten bei den Juden im Osteuropa der frühen Moderne gesteuert wurden.4 In seiner Grundbedeutung bezieht er sich auf das Prestige, das einem Individuum dank der Vorfahren auf beide