1. KAPITEL
Geräuschvoll entrollte sich die riesige Plane vor der Fassade des Hauses in der Via Pietro Boldoni in der Innenstadt von Como. Kathryn Jansen schirmte die Augen mit der flachen Hand ab, um besser sehen zu können. In ihrem Bauch kribbelte es vor Aufregung. Sie war voller Vorfreude, hegte aber auch Zweifel, ob sie der Aufgabe wirklich gewachsen war, für die sie in die Lombardei gekommen war. Sie schluckte. Nun, zumindest die Druckerei hatte den Auftrag wie gewünscht ausgeführt. Die Plane erstreckte sich in voller Breite über alle vier Stockwerke des Gebäudes. Darauf war die Fassade in ihrer tatsächlichen Größe abgedruckt. Man erkannte den zart roséfarbenen Putz, die hohen, halbrunden Sprossenfenster mit den hellgrünen Fensterläden sowie die kunstvolle Rankenbemalung unter dem Dachfirst. Darüber stand in fast mannshohen Buchstaben:
„Hier baut Jansen’s für Sie – Willkommen im Schlemmerparadies“. Darunter das Datum der Filialeröffnung und das Logo der Supermarktkette.
Kaum hatte das Werbetransparent die Pflastersteine berührt, blieben erste Passanten stehen und beäugten es. Man tuschelte. Natürlich, der Name Jansen war überall auf der Welt bekannt. Man konnte von ihm halten, was man wollte, Kathryns Vater hatte immer den richtigen Riecher fürs Geschäft besessen. Harold Jansens Konzept funktionierte seit über dreißig Jahren.
Angefangen hatte er mit einem einzigen Laden in London: einem Supermarkt, der Luxuswaren zu Discounterpreisen anbot. Über die Jahrzehnte war die Firma immer weiter gewachsen. Das Konzept blieb dasselbe. Wo Harold Jansen eine Filiale eröffnete, schloss er Verträge mit den besten Zulieferern der Region. Er kaufte große Mengen und verpackte die Lebensmittel im charakteristischen Design der Kette. Ergänzt wurde die Produktpalette durch Überproduktionen von Artikeln, die die Firma in großen Stückzahlen aufkaufte und neu verpackte. Wo immer auf der Welt ein Kunde eine Jansen’s-Filiale betrat, erwarb er Luxusgüter zu niedrigen Preisen.
Dank der oft malerischen Lage der Ladengeschäfte wurde ein Besuch bei Jansen’s zum Einkaufserlebnis. Statt wie andere Supermärkte in den Randbezirken, fand man Jansen’s-Filialen in den Herzen der Metropolen. Mit der Neueröffnung in Como konnte die Firma nun auch ihre erste Niederlassung in Italien verzeichnen. Nach England, den USA, Frankreich, Deutschland, Argentinien, Belgien, der Schweiz und Dänemark war Jansen’s damit in neun Ländern vertreten – eine weitere Sprosse auf der Erfolgsleiter von Harold Jansen.
Der Cheftechniker, der für das Anbringen verantwortlich war, löste sich von seinem Posten unten am Gebäude und trat auf Kathryn zu. „Gefällt es Ihnen, Signora Jansen?“ Er hatte einen starken Akzent, sprach aber fehlerfrei Englisch. Die paar Worte Italienisch, die sie gelernt hatte, ehe sie von London aus zu diesem Auftrag aufgebrochen war, hätte sie sich wahrscheinlich sparen können. Doch sie wusste, dass ihr Dad nur auf einen Fehler von ihr wartete, und wollte es keinesfalls riskieren, dass die Sprachbarriere ihr in den Weg kam.
„Ja, es ist wirklich schön geworden. Aber sind Sie sicher, dass alles hält, auch wenn es mal gewittert oder stürmt?“
Der Mann kratzte sich am Kinn, während er grinsend in den wolkenlosen Himmel blickte. „Keine Angst, Signora, hier stürmt es nicht. Aber natürlich befestigen wir alles. Sehen Sie die Löcher im Pflaster? Die haben wir gestern schon eingelassen. Da kommen Haken rein, dann wird alles festgezurrt. Dann kann die Welt untergehen, aber hier verrutscht nichts.“
Kathryn folgte seinem Blick. Drei Männer waren damit beschäftigt, das Werbebanner zu befestigen und zu sichern. Wie es aussah, hatten die Arbeiter alles im Griff.
„Dann brauchen Sie mich hier nicht mehr?“
„Nur noch für die Unterschrift.“ Mit großer Geste zog er das Klemmbrett hervor, das hinten in seinem Hosenbund steckte, und hielt es Kathryn unter die Nase. Mit der freien Hand deutete er auf eine Linie am unteren Rand des Formulars auf dem Brett. Obwohl sie sich sicher war, dass alles mit rechten Dingen zuging, las Kathryn die Angaben gründlich durch, ehe sie unterschrieb. Sie würde nicht zulassen, dass ein Fehler sie als Anfängerin outete. Schließlich hatte sie ihr Studium nicht zum Spaß in Rekordzeit hinter sich gebracht.
Wen kümmerte es schon, dass sie sich diesen Erfolg mit Albträumen und Schlaflosigkeit hatte erkaufen müssen? Sie hatte Eindruck gemacht, und ihre Professoren hatten ihr eine große Zukunft vorausgesagt. Deshalb las sie auch das Kleingedruckte. Ohne Ausnahme. Sie hatte gelernt, eine harte Verhandlungspartnerin zu sein und ihre Gefühle auszublenden. Sie arbeitete nicht acht Stunden am Tag, sondern