: Verena Stauffer
: Orchis Roman
: Verlag Kremayr& Scheriau
: 9783218011150
: 1
: CHF 8.90
:
: Historische Romane und Erzählungen
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Anselm ist Botaniker und leidenschaftlicher Orchideenforscher. Mitte des 19. Jahrhunderts begibt er sich auf eine Expedition nach Madagaskar. Dort findet er nicht nur die schönste Orchidee der Welt, sondern Erfüllung, die aber nur von kurzer Dauer ist. Auf dem Schiff zurück in die Heimat verrückt sich etwas in Anselm: Aus seiner Schulter wächst eine Orchidee. Zu Hause angekommen, bringen ihn seine Eltern in eine Nervenheilanstalt, wo er sich bald wieder erholt. Seiner wissenschaftlichen Laufbahn scheint nichts mehr im Wege zu stehen. Doch die Zeit arbeitet gegen ihn: Die politischen Umbrüche verändern sein Umfeld. Die wissenschaftlichen Neuerungen durch Darwin stellen seine Theorien auf den Kopf. Und die überstürzte Reise nach China bringt Ungeahntes zutage. Verena Stauffer beweist in ihrem Debütroman ein besonderes Gespür für die Wahrnehmungen und Empfindungen ihrer Figuren. Sie lässt uns teilhaben an einer höchst sinnlichen Reise in den fernen Osten und führt uns noch weiter - in die Abgründe und das Innerste der menschlichen Psyche. 'Eines Tages, so erzählte er später, begannen die Orchideen sich zu bewegen, irgendwann legten sie ihre Blätter auf seinen Kopf, hielten ihn und legten ihre Blütenhäupter daneben.'

Verena Stauffer, 1978 in Oberösterreich geboren. Lebt in Wien. Studium der Philosophie an der Universität Wien. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den 'manuskripte'-Förderungspreis den Rotahorn-Literaturpreis sowie das Projektstipendium des Bundeskanzleramts Österreich. Veröffentlichungen von Lyrik und Prosa in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien ('manuskripte', 'Die Presse am Sonntag', 'Lichtungen' u.a.). 2014 ist ihr Lyrikdebüt 'Zitronen der Macht' bei hochroth erschienen. 'Orchis' ist ihr erster Roman.

1. EXHUMIERUNG


Das Erwachen auf dem Schiff nach wochenlanger Überfahrt glich dem Auftauchen eines Kugelfischs aus schwarzen Meeresgründen in leuchtende Korallenriffe. In den ersten Stunden des Morgens legte Anselm im Hafen von Madagaskar an. Seine ersten Schritte auf festem Boden waren ein ungewohntes Gefühl, ihm schwindelte. Die Erde unter seinen Füßen wankte und das Meer stand still. Ein trockener, auf der Haut brennender Wind wehte ihm entgegen, er roch nach Zimt und Rhabarber. Die Bäume, die im gleißenden Licht hätten Schatten spenden sollen, sahen aus wie Knochen, vertrocknete Blätter baumelten wie Reste verwesten Fleisches im Luftstrom. Die Straßen waren sandgefüllte Mulden und die Häuser brüchige Lehmwürfel, gedeckt von gelbem Bast.

Als er sich umblickte, sah er, wie Kinder in zerschlissenen Leinen auf ihn zuliefen; sie umringten ihn, berührten ihn, nahmen ihm seine Koffer ab, und so sehr er sie auch halten wollte, sie fegten mit diesen davon. Ihre kleinen Hände krallten sich an seine Taschen. Vielleicht träumten sie von Puppen mit goldenen Haaren, bunten Windrädern, Spieluhren mit Glocken, oder einem aufziehbaren Ringelspiel mit Zinnpferdchen.

Er ließ sich treiben, folgte den Kindern, blickte sich um, Fremdes strömte auf ihn zu. Klumpen weißer Steine, die von Männern in Säcke gepackt wurden, um dann über kleine Baumstämme auf schmale, schaukelnde Pirogen getragen zu werden. Haufen weißer Sterne, jene des Meeres, lagerten vor feuchten Wänden havarierter Einbäume. Und noch einmal da und dort Kuppen von weißen, grob geschliffenen Oktaedern – ob es sich um Früchte handelte, fragte er sich, die hier zur Verschiffung vorbereitet wurden? Mit Tauen zusammengebundene, störrische Rinder, die gemeinsam in die eine und dann in die andere Richtung schwankten, standen kurz vor ihrer Verladung. Dahinter hunderte mit den Wellen pendelnde Masten, auf welchen große und kleine Segel loderten. Da und dort hölzerne Tröge, die bis obenhin mit orange glänzenden Spalten gefüllt waren, einen süßlichen Duft verströmten und von auf der Erde hockenden Frauen verkauft wurden, die dasaßen, als wären sie nie woanders gewesen. Wohin er auch sah, die Umgebung war von einem trockenen, schlammigen Braun, die Oberflächen geprägt von Rissen. Risse in den Straßen, den Häusern, den Bäumen, rissi