: Erhard Busek, Emil Brix
: Mitteleuropa revisited Warum Europas Zukunft in Mitteleuropa entschieden wird
: Verlag Kremayr& Scheriau
: 9783218011198
: 1
: CHF 8.90
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Heute existieren zwei große Ansichten zu Mitteleuropa. Für die einen ist es die größte europäische Erfolgsgeschichte der letzten Jahrzehnte, weil eine friedliche, vollständige Transformation zu Demokratie und Marktwirtschaft und die Eingliederung in die westeuropäischen Wirtschafts- und Sicherheitsstrukturen gelungen sind. Für die anderen ist Mitteleuropa zu einer fragmentierten und teilweise marginalisierten Region geworden, aus der keine Vorschläge für Europas Zukunft kommen, die sich in der Migrationskrise unsolidarisch verhält und in der politische Stabilität nur um den Preis starker nationalpopulistischer Politik zu erreichen ist. 1986 veröffentlichten Erhard Busek und Emil Brix das Buch 'Projekt Mitteleuropa', das eine verbindende, grenzüberschreitende Utopie in einer Welt der feindseligen Extremismen präsentierte. Für viele Dissidenten in Ostmitteleuropa war diese Idee eine Chiffre der Hoffnung gegen das von Moskau gelenkte System, bis 1989 der Eiserne Vorhang fiel. Es scheint, dass Europa heute ein neues Nachdenken über Mitteleuropa braucht, um zu sich und zur Vernunft zu kommen.

Erhard Busek, geboren 1941, Wissenschaftsminister, Unterrichtsminister und Vizekanzler a.D. Seit 1996 Koordinator der South East European Cooperative Initiative, 2002-2008 Koordinator des Stabilitätspakts für Südosteuropa, 2000 bis 2012 Präsident des Europäischen Forums Alpbach. Präsident des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa, Präsident des Gustav-Mahler- Jugendorchesters. Emil Brix, geboren 1956, seit 1982 im Diplomatischen Dienst der Republik Österreich. Stationen als Generalkonsul in Krakau, Direktor des Österreichischen Kulturinstituts in London und Leiter der Kulturpolitischen Sektion im Außenministerium. 2010 bis Januar 2015 Botschafter in London, bis 2017 Botschafter in Moskau. Seit August 2017 Direktor der Diplomatischen Akademie Wien.

2. KAPITEL


Mitteleuropa: Der lange Weg zur Integration


Als der Eiserne Vorhang und die Berliner Mauer fielen, war der Überschwang in den Kommentaren beträchtlich. Man sprach vom annus mirabilis, dem »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama), vom Sieg der Demokratie westlicher Prägung, man erhoffte sich Zeiten des ewigen Friedens und was es sonst noch an hymnischen Beschreibungen gab. Bei aller Distanz zur Euphorie von damals: Es war eine unerwartete und an sich großartige Entwicklung insbesondere für die Mitte Europas. Vieles hat bleibende Veränderungen bewirkt, die wir heute als selbstverständlich hinnehmen, die aber durchaus nicht den Voraussagen vieler Zukunftsforscher entsprachen. Der guten Ordnung halber sei festgehalten, dass die Wirklichkeit in der Mitte des Kontinents vorher anders aussah als heute: Eine Gemeinsamkeit Europas gab es nicht, die West-Ost-Teilung war auch nach Zeiten der Entspannung Realität und die Menschen lebten in unterschiedlichen politischen Verhältnissen, wobei die Erinnerung an vergangene Gemeinsamkeit, etwa in der Donaumonarchie, mehr und mehr verblasste. Auch die Friedensvorstellungen dieser Zeit trugen dieser Teilung Rechnung. Es gab auf der einen Seite die »Pax Americana«, auf der anderen Seite die »Pax Sovietica«. Vereinfacht gesagt: Es gab weder den gemeinsamen Kontinent Europa noch eine Vorstellung von Mitteleuropa. Natürlich zeichneten sich schon Bewegungen ab, die aber weder eine Vorstellung von noch ein Datum zu dramatischen Veränderungen enthielten. György Konrád sprach von Mitteleuropa als einer »Metaebene des Geistes«, womit er meinte, dass es quasi durch die Kraft intellektueller Vorstellungen möglich war, dort eine Gemeinsamkeit zu entwickeln, wo sie de facto politisch nicht existierte.

In tiefem Respekt für die Leistungen sehr vieler Literaten, Wissenschaftler und Künstler muss festgehalten werden, dass dieser Glaube an den geistigen Kontinent Mitteleuropa von ungeheurer Wichtigkeit war. Mit Bedauern ist festzustellen, dass darüber eigentlich bislang keine umfassende Dokumentation existiert und die geistigen Heroen dieser Zeit nicht nur nicht mehr unter uns weilen, sondern auch der Vergessenheit anheimgegeben sind. Die Geistesmenschen von damals, die in Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, in der DDR, aber auch in Rumänien und Bulgarien lebten, sind in ihrem Wirken nach wie vor nicht historisch dokumentiert. Auch die Partnerschaften, die sich in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich entwickelten, die Bemühungen um Kontakt im Wege von Stipendien und Aktionen (z.B. Humboldt, Staatspreise für österreichische Literatur, Austauschprogramme etc.), sind heute vergessen. Die Geschichtswissenschaften haben hier noch einen großen Auftrag vor sich, das zu dokumentieren, um damit zu zeigen, dass auch in schwierigen Situationen durch solche Tätigkeiten Veränderungen vorbereitet werden können. N