Als der Eiserne Vorhang und die Berliner Mauer fielen, war der Überschwang in den Kommentaren beträchtlich. Man sprach vom annus mirabilis, dem »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama), vom Sieg der Demokratie westlicher Prägung, man erhoffte sich Zeiten des ewigen Friedens und was es sonst noch an hymnischen Beschreibungen gab. Bei aller Distanz zur Euphorie von damals: Es war eine unerwartete und an sich großartige Entwicklung insbesondere für die Mitte Europas. Vieles hat bleibende Veränderungen bewirkt, die wir heute als selbstverständlich hinnehmen, die aber durchaus nicht den Voraussagen vieler Zukunftsforscher entsprachen. Der guten Ordnung halber sei festgehalten, dass die Wirklichkeit in der Mitte des Kontinents vorher anders aussah als heute: Eine Gemeinsamkeit Europas gab es nicht, die West-Ost-Teilung war auch nach Zeiten der Entspannung Realität und die Menschen lebten in unterschiedlichen politischen Verhältnissen, wobei die Erinnerung an vergangene Gemeinsamkeit, etwa in der Donaumonarchie, mehr und mehr verblasste. Auch die Friedensvorstellungen dieser Zeit trugen dieser Teilung Rechnung. Es gab auf der einen Seite die »Pax Americana«, auf der anderen Seite die »Pax Sovietica«. Vereinfacht gesagt: Es gab weder den gemeinsamen Kontinent Europa noch eine Vorstellung von Mitteleuropa. Natürlich zeichneten sich schon Bewegungen ab, die aber weder eine Vorstellung von noch ein Datum zu dramatischen Veränderungen enthielten. György Konrád sprach von Mitteleuropa als einer »Metaebene des Geistes«, womit er meinte, dass es quasi durch die Kraft intellektueller Vorstellungen möglich war, dort eine Gemeinsamkeit zu entwickeln, wo sie de facto politisch nicht existierte.
In tiefem Respekt für die Leistungen sehr vieler Literaten, Wissenschaftler und Künstler muss festgehalten werden, dass dieser Glaube an den geistigen Kontinent Mitteleuropa von ungeheurer Wichtigkeit war. Mit Bedauern ist festzustellen, dass darüber eigentlich bislang keine umfassende Dokumentation existiert und die geistigen Heroen dieser Zeit nicht nur nicht mehr unter uns weilen, sondern auch der Vergessenheit anheimgegeben sind. Die Geistesmenschen von damals, die in Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, in der DDR, aber auch in Rumänien und Bulgarien lebten, sind in ihrem Wirken nach wie vor nicht historisch dokumentiert. Auch die Partnerschaften, die sich in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich entwickelten, die Bemühungen um Kontakt im Wege von Stipendien und Aktionen (z.B. Humboldt, Staatspreise für österreichische Literatur, Austauschprogramme etc.), sind heute vergessen. Die Geschichtswissenschaften haben hier noch einen großen Auftrag vor sich, das zu dokumentieren, um damit zu zeigen, dass auch in schwierigen Situationen durch solche Tätigkeiten Veränderungen vorbereitet werden können. N