[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
KAPITEL 1
Wie entsteht Persönlichkeit?
Vor einigen Jahren besichtigten meine Frau und ich zusammen mit Freunden die Überbleibsel der »Comthurey«, eines ehemaligen Gutshofs aus der Zeit des Nationalsozialismus nahe dem mecklenburgischen Fürstenberg. Hier betrieben einige Gefolgsmänner Heinrich Himmlers ein »Versuchsgut zu Ernährung und Verpflegung«, u.a. mit Heilpflanzen zur Herstellung von Medizinprodukten für die Soldaten der Wehrmacht. Gerade hatten wir die unglaubliche Geschichte einer Frau gelesen, die auf diesem Gut aufgewachsen war.5
Während wir nach Spuren der Vergangenheit suchend über das Gelände streiften, fiel mein Blick auf eine Reihe auffallend üppiger Tomatenpflanzen. Sie wuchsen in Töpfen an der Sonnenseite eines Hauses, das hier nach dem Krieg auf den Ruinen wiederaufgebaut worden war. Die Pflanzen waren dicht behangen mit großen, herrlichen Früchten. Da ich selber seit Jahren Tomaten in Töpfen ziehe, konnte ich nicht anders, als mir die Sache genauer anzusehen. Die Verbrechen der Nazizeit traten für einen Moment in den Hintergrund, als ich mit staunenden Augen diese Prachtexemplare von Tomatenstauden bewunderte. Im Garten erspähte ich eine vor sich hin werkelnde, ältere Frau. Ich sprach sie auf ihre tollen Früchte an und fragte: »Wie machen Sie das bloß, dass Ihre Pflanzen in diesen Töpfen so ausgezeichnet gedeihen?«
Mein Kompliment tat die erwünschte Wirkung: Langsam kam sie zum Gartenzaun. Sie musterte mich für einen Moment, als müsste sie überlegen, ob sie mir ihr Gartengeheimnis tatsächlich anvertrauen wollte.
»Wissen Sie«, fuhr ich fort, »ich bin Schweizer und gerade in dieser Gegend im Urlaub. Aber ich habe noch nie solch schöne Topftomaten gesehen! Meine eigenen zu Hause sehen nie so aus wie Ihre.«
Sichtlich geschmeichelt trat die Frau nahe an mich heran, schaute mich vielsagend an und flüsterte dann leise, als sollte es sonst keiner hören: »Wissen Sie, es gibt da einen Trick.« Sie machte eine längere Pause, als wollte sie mich zappeln lassen. Schließlich: »Mein Mann holt mir jeden Frühling aus dem nahen See Fische. Ich lege in jeden Topf einen von ihnen hinein. Dann pflanze ich darüber den Setzling. So habe ich das mal im Radio gehört. Seither mache ich das – und es funktioniert!«
Ich blieb skeptisch: »Und Sie geben keinen Dünger dazu?«
»Kein Dünger! Der Fisch ist der Dünger!«
Fisch im Tomatentopf? Ich traute meinen Ohren nicht. Dennoch bedankte ich mich höflich und verabschiedete mich mit einem letzten Lob für ihren schönen Garten.
Kriegsgeschichten hin oder her: Die Tomatenfische ließen mich nicht mehr los. Im Jahr darauf versuchte ich mit allen Mitteln, an Fische heranzukommen. Einige Wochen später hatte ich zwei Säcke in meiner Kühltruhe und wartete ungeduldig auf die Pflanzzeit. Es fühlte sich an wie ein geheimes Ritual, als ich die Fische unten in den Topf legte, Erde darüberschüttete und die kleinen Tomatensetzlinge einpflanzte. Ich war noch immer skeptisch. Tomaten auf Fisch? Passte das zusammen oder war es nicht doch eher eine Sache, die eine besondere Form des Glaubens erforderte? Meine Familie witzelte liebevoll über meine neue Tomatentechnik und debattierte am Tisch ernsthaft die Frage, ob auf Fischen gezogene Tomaten als vegetarisch bezeichnet werden dürfen …
In den ersten Wochen bemerkte ich keinen Unterschied. Dann auf einmal, wie au