: Anthony Horowitz
: Die Morde von Pye Hall Für Liebhaber:innen von Sherlock Holmes und Hercule Poirot
: Insel Verlag
: 9783458758136
: Susan Ryeland ermittelt
: 1
: CHF 17.00
:
: Spannung
: German
: 604
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Lektorin Susan Ryeland arbeitet schon seit Jahren mit dem Krimiautor Alan Conway zusammen, und die Leser lieben seine Krimis mit dem Detektiv Atticus Pünd, der seine Fälle charmant wie Hercule Poirot zu lösen pflegt. Doch in seinem neuesten Fall ist nichts, wie es scheint. Zwar gibt es zwei Leichen in Pye Hall und auch diverse Verdächtige, aber die letzten Kapitel des Manuskripts fehlen und der Autor ist verschwunden. Susan Ryeland muss selbst zur Detektivin werden, um nicht nur den Fall der Morde von Pye Hall zu lösen, sondern auch die Umstände des Todes von Alan Conway zu enträtseln.

<p>Anthony Horowitz, geboren 1956 in Stanmore, gehört zu den erfolgreichsten Autoren der englischsprachigen Welt, in Deutschland ist er vor allem durch seine Jugendbuchreihe um Alex Rider bekannt. Neben zahlreichen Büchern hat Anthony Horowitz Theaterstücke und Drehbücher zu verschiedenen Filmen und Fernsehserien (unter anderem<em>Inspector Barnaby</em>) verfasst. Seit seiner Jugend ist er Sherlock-Holmes-Fan. Im Insel Verlag erschien zuletzt<em>Mord stand nicht im Drehbuch</em> (2024). Anthony Horowitz lebt mit seiner Familie in London.</p>

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Am Küchentisch im Pfarrhaus nahm Reverend Robin Osborne noch letzte Verbesserungen an seiner Predigt vor. Sechs Schreibmaschinenseiten lagen vor ihm auf dem Tisch, aber die säuberlich getippten Blätter waren jetzt schon mit zahllosen Korrekturen und Ergänzungen in seiner fahrigen Handschrift bedeckt. War sie zu lang? Es hatte in letzter Zeit ein paar versteckte Bemerkungen aus der Gemeinde gegeben, dass sich seine Ausführungen recht lange hinzögen, und bei der Pfingstsonntagspredigt hatte der Bischof sogar gegähnt. Aber heute war es doch etwas anderes. Mrs Blakiston hatte ihr gesamtes Leben im Dorf verbracht. Jeder kannte sie. Die Gemeinde konnte doch wohl eine halbe Stunde – oder vielleicht sogar vierzig Minuten – ihrer Zeit aufbringen, um sich von ihr zu verabschieden?

Die Küche war ein breiter, freundlicher Raum, in dem ein großer gusseisernerAGA-Herd das ganze Jahr behagliche Wärme verbreitete. Töpfe und Pfannen hingen an den Wänden, und in den Regalen standen Gläser mit frischen Kräutern und getrockneten Pilzen, die das Ehepaar Osborne gesammelt hatte. Im oberen Stockwerk gab es zwei Schlafzimmer mit gemütlichen Wollteppichen, handbestickten Bettbezügen und neuen Oberlichtern, die erst nach langen Beratungen mit der Kirche eingebaut worden waren. Aber das Schönste am Pfarrhaus war seine Lage am Rand des Dorfes, von wo aus man über eine bewaldete Senke hinausblickte, die allgemein Dingle Dell genannt wurde. Erst kam eine wilde, im Frühling und Sommer stets blumengesprenkelte Wiese, dann ein Waldstreifen, der vor allem aus Eichen und Ulmen bestand und den Park von Pye Hall verbarg – den See, die Rasenflächen und das Herrenhaus selbst. Jeden Morgen, wenn er erwachte, stand Robin Osborne vor einem Ausblick, der ihn immer wieder entzückte. Manchmal dachte er, dass er in einem Märchen lebte.

Das Pfarrhaus war nicht immer so gewesen. Als sie das Haus und die Diözese vor Jahren von dem alten Reverend Montagu übernommen hatten, war es das Haus eines alten Mannes gewesen, kalt, feucht und ungastlich. Aber Henrietta hatte gezaubert. Sie hatte die Möbel, die ihr zu hässlich und unbequem waren, hinausgeworfen und so lange in den Secondhand-Läden von Wiltshire und Avon herumgesucht, bis alles auf ideale Weise ersetzt war. Ihre Energie verblüffte ihn immer wieder. Dass sie bereit gewesen war, einen Pfarrer zu heiraten, war an und für sich schon erstaunlich genug, aber sie hatte sich mit einer Begeisterung auf ihre Pflichten gestürzt, die sie vom ersten Tag an beliebt gemacht hatte. Die beiden waren sehr glücklich in Saxby-on-Avon. Allerdings bedurfte das Kirchengebäude noch einiger Aufmerksamkeit. Die Heizung war dauernd kaputt, und das Dach war nicht dicht. Aber der Bischof war mit dem Gottesdienstbesuch mehr als zufrieden, und viele der Gemeindemitglieder konnten sie mittlerweile als Freunde betrachten. Es wäre ihnen im Traum nicht eingefallen, irgendwo anders hinzugehen.

»Sie war ein Teil unseres Dorfes. Gerade heute, wo wir von ihr Abschied nehmen, sollten wir uns daran erinnern, was sie uns hinterlassen hat. Mary hat Saxby-on-Avon für alle ein bisschen schöner gemacht. Ob es darum ging, am Sonntag die Kirche mit Blumen zu schmücken, sich um die Alten und Kranken in Ashton House und im Dorf zu kümmern, Spenden für den Vogelschutzbund zu sammeln oder Besucher in Pye Hall zu begrüßen – sie war immer im Einsatz. Ihr selbstgebackener Kuchen war stets ein Höhepunkt bei unserem Dorffest, und ich kann Ihnen auch verraten, dass sie mich oft genug in der Sakristei mit ihren Mandelplätzchen oder einem Stück Victoria Sponge Cake überrascht hat.«

Osborne versuchte sich die Frau noch einmal vorzustellen, die ihr Leben als Haushälterin von Pye Hall verbracht hatte. Klein, dunkelhaarig und entschlossen, war sie praktisch immer in Eile gewesen, wie auf einem persönlichen Kreuzzug. In seiner Erinnerung sah er sie mit einer gewissen Distanz, denn genau genommen waren sie im Lauf der Jahre nie lange im selben Raum gewesen. Bei ein, zwei gesellschaftlichen Anlässen waren sie aufeinandergetroffen, aber viele waren es nicht gewesen. Die Leute in Saxby-on-Avon waren keine richtigen Snobs, hatten aber doch ein gut entwickeltes Standesbewusstsein, und während ein Pfarrer injeder Gesellschaft als passende Zutat betrachtet wurde, konnte man das von jemandem, der letztlich nur eine bessere Putzfrau war, natürlich nicht sagen. Vielleicht hatte sie das gespürt. Sogar in der Kirche hatte sich Mary meist auf eine der hinteren Bänke gesetzt. Und die Art, in der sie anderen half, hatte etwas Unterwürfiges, so als glaubte sie, dass sie dazu verpflichtet wäre. Oder war es viel einfacher? Wenn er über sie nachdachte und las, was er geschrieben hatte, fiel ihm nur ein einziges Wort ein: Wichtigtuerei. Es war nicht fair, und er hätte es sicher nicht laut gesagt, aber er musste zugeben, dass es auch nicht ganz falsch war. Sie war die Sorte Frau, die überall mitmischte, nicht nur beim Kuchenteigrühren. Sie hatte Wert darauf gelegt, sich mit jedem im Dorf zu befassen. Irgendwie war sie immer da, wenn man sie brauchte. Das Dumme war, dass sie manchmal auch da gewesen war, wenn man sie nicht brauchte.

Osborne erinnerte sich, dass er sie vor kurzem sogar hier in seiner Küche angetroffen hatte. Er ärgerte sich über sich selbst. Er hätte damit rechnen müssen. Henrietta hatte sich schon mehrfach darüber beschwert, dass er die Haustür immer offen ließ, als ob das Pfarrhaus nicht ihre Privatwohnung, sondern Teil der Kirche wäre. Er hätte auf seine Frau hören sollen. Mary hatte unverhofft in der Küche gestanden und eine kleine Flasche mit einer grünen Flüssigkeit hochgehalten wie einen mittelalterlichen Abwehrzauber gegen Dämonen.»Guten Morgen, Herr Pfarrer! Ich habe gehört, Sie haben Ärger mit Wespen. Ich habe Ihnen eine Flasche Pfefferminzöl mitgebracht. Das wird sie vertreiben. Meine Mutter hat darauf geschworen!« Es stimmte. Es hatte Wespen im Pfarrhaus gegeben – aber woher hatte sie das gewusst? Osborne hatte nur mit Henrietta darüber gesprochen, und die hatte es bestimmt nicht weitererzählt. Andererseits – in einer Gemeinde wie Saxby-on-Avon konnte man wohl nichts anderes erwarten. Auf unergründliche Weise wusste jeder alles über jeden; und wenn man im Badezimmer mal niesen musste, erschien gleich jemand mit einem Taschentuch.

Als er sie da stehen sah, hatte Osborne nicht gewusst, ob er gerührt oder ärgerlich sein sollte. Er hatte ein paar Dankesworte gemurmelt, aber er hatte auch auf den Tisch gestarrt. Und da lagen sie, mitten zwischen seinen Papieren. Wie lange war diese Frau schon in der Küche gewesen? Hatte sie sie gesehen? Sie hatte nichts weiter gesagt, und natürlich wagte er nicht, sie danach zu fragen. Er hatte die Frau so rasch wie möglich hinausgedrängt, und das war das letzte Mal gewesen, dass er sie gesehen hatte. Er und Henrietta waren in Urlaub gewesen, als sie gestorben war. Sie waren gerade rechtzeitig zurückgekehrt, um sie zu beerdigen.

Er hörte Schritte und hob den Kopf, als Henrietta hereintrat. Sie kam frisch aus der Badewanne und trug noch ihren Morgenmantel aus Frottee. Sie war Ende vierzig, aber immer noch sehr attraktiv. Ihr kastanienfarbenes, üppiges Haar krönte eine Figur, die man in Modezeitschriften wahrscheinlich als »vollschlank« bezeichnet hätte. Als jüngste Tochter eines reichen Bauern kam sie aus einer anderen Welt. Ihr Vater besaß tausend Morgen Land in West Sussex, aber kennengelernt hatten sie sich in London, bei einem Vortrag in der Wigmore Hall. Sie hatten sofort eine große Nähe empfunden. Sie mussten ohne Zustimmung ihrer Eltern heiraten, aber das hatte sie nur noch fester zusammengeschmiedet. Ihr einziger Kummer war, dass ihre Ehe nicht mit Kindern gesegnet war, aber das war natürlich Gottes Wille und sie hatten sich damit abgefunden. Sie waren einfach froh und glücklich, zusammen zu sein.

»Ich dachte, die Predigt wäre längst fertig«, sagte sie. Sie hatte Butter und Honig aus der Speisekammer geholt und schnitt sich eine Scheibe Weißbrot ab.

»Nur noch ein paar Ideen in letzter Minute.«

»Also, ich würde nicht zu lange reden, Robin. Es ist...