WENN DIE KINDER AUS DEM
HAUS GEHEN
Teil I: Barbara und Christiane (Die Mütter)
»Das sicherste Mittel,
Kinder zu verlieren, ist, sie immer behalten zu wollen.«
— Adolf Sommerauer, Theologe
Barbara
Es war einer dieser starken Momente im Leben. Nur sekundenkurz und doch von einer inneren Kraft, die – wie in Zeitlupe – vor den eigenen Augen eine neue Welt eröffnet. Die Tore schieben sich festlich zur Seite, die Fanfare tönt. Und am Horizont flimmern Veränderung, Wehmut und eine verstörend erregende Zukunft.
Ich hatte solch einen Moment, kurz nachdem meine Tochter Pauline ausgezogen war. Er kam ganz unauffällig und schlich sich in eine eigentlich unspektakuläre Situation. Aber vielleicht ist das ja das Wunder solcher Augenblicke. Sie kommen auf leisen Sohlen und entfalten sich. Aber dazu später.
Als sich Pauline entschloss, in Hamburg zu studieren, war sie neunzehn Jahre alt. Im Sommer leerte sie ihr Zimmer. Sie leerte jenen Raum, in dem sie – nach vielen internen Umzügen in unserer 4-Zimmer-Wohnung – vor etlichen Jahren glücklich gelandet war.
Unsere Wohnung war immer ein Verschiebebahnhof gewesen. Erst lebten wir hier zu fünft, dann zu viert. Wie Heinzelmänner rückten wir je nach Lebensstatus und Verfassung aller Beteiligten Betten und Kommoden umher. Wir schoben Schreibtische und Lampen in immer wieder neue Ecken und mit den diversen Möbelstücken auch gelegentlichen Groll und Gruppenkoller. Wir schlossen Wände, um sie nach Monaten wieder zu öffnen. Wir verbarrikadierten Türeingänge mit mannshohen Regalen, um sie ein Jahr später wieder für Luft und Licht und andere Konstellationen aufzubrechen – was meist auch nicht lange hielt. Die unterschiedlichen Zustände – je nach Kleinkind oder pubertärem Schweregrad – dirigierten unsere wechselvollen Lebenskonstrukte.
Gefühlt habe ich in jeder Ecke dieser Wohnung schon geschlafen; kleine Stückchen des Areals geteilt und häufig sauber abgetrennt – immer wohl auch auf der Suche nach etwas Stille und einem eigenen Kokon. Durch kleine Lücken in Bücherregalen blinzelten wir in die daneben liegende Welt der anderen. Irgendwo lag oder saß immer jemand. Ich kann die unzähligen Wohnsituationen längst nicht mehr rekonstruieren, aber nachdem ich mich vom Vater der Kinder getrennt hatte, wollte ich ein klares Konzept. Für alle.
Die Kinder sollten nun, nach diesen vielen unruhigen Kleinstumzügen, jeder in seiner ganz privaten Zivilisation walten können. Ich selbst versorgte mich im Wohnzimmer mit einer edlen Schlafcouch und einem von diesem Moment an acht Jahre währenden Ritus, der morgens und abends vollzogen wurde. Das schräge Knarzgeräusch, wenn ich die Couch abends zu meiner Schlafwelt öffnete, war meine stete Ouvertüre für die Nacht. Die Kinder übrigens haben diese Couch lange geliebt und betteten sich dort gern neben mich. Aber das ist nun auch schon eine ganze Weile her.
Jedenfalls saß meine Tochter also in ihrem Zimmer und sortierte über Tage ihr bis dahin ja noch recht kurzes Leben in kleine Häppchen. Am Ende gab es drei Haufen: einen, der die Reise in die Zukunft begleiten musste; einen »Vielleicht«-Haufen und einen dritten, der über Bord geschmissen wurde. Er war klein, aber völlig untauglich für dieses neue Abenteuer.
Es gab dann auch noch ein viertes Häppchen: Dinge, die nicht mitgenommen, aber auch nicht weggeschmissen werden konnten, wie der schwer erarbeitete Diddl-Ordner. Oder Hektor, ein Golden Retriever aus Stoff, den ihr meine Mutter