Eins
Meine Schwester Greta und ich saßen an diesem Nachmittag Modell für ein Gemälde, das mein Onkel Finn von uns anfertigte, weil er wusste, dass er bald sterben würde. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits begriffen, dass ich, wenn ich erwachsen wäre, niemals in sein Apartment ziehen und dort für den Rest meines Lebens mit ihm wohnen würde. Und ich hatte aufgehört zu glauben, dass diesesAIDS-Ding irgendwie nur ein riesiges Missverständnis war. Als er meine Mutter das erste Mal gefragt hatte, sagte sie noch nein. Sie sagte, die Idee habe etwas Makabres an sich. Die Vorstellung, wie wir beide in Finns Apartment mit den riesigen Fenstern und dem Duft nach Lavendel und Orangen säßen, die Vorstellung, wie er uns betrachtete, als sähe er uns vielleicht zum letzten Mal, diese Gedanken ertrage sie einfach nicht. Außerdem, sagte sie, sei es eine lange Fahrt vom nördlichen Westchester bis ins Herz von Manhattan. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, sah direkt in Finns vogelblaue Augen und erklärte, dazu bleibe im Alltag einfach zu wenig Zeit.
»Wem sagst du das«, antwortete er.
Damit hatte er sie geknackt.
Jetzt bin ich fünfzehn, aber an besagtem Nachmittag war ich noch vierzehn. Greta sechzehn. Es war Ende Dezember 1986, und im vergangenen halben Jahr waren wir an einem Sonntagnachmittag pro Monat zu Onkel Finn gefahren. Immer nur meine Mutter, Greta und ich. Mein Vater kam nie mit, und er tat gut daran. Er gehörte nicht dazu.
Ich saß auf der hinteren Bank des Minivans. Greta in der Sitzreihe vor mir. Ich versuchte, es so hinzukriegen, dass ich sie anstarren konnte, ohne dass sie etwas davon mitbekam. Leute beobachten ist toll, aber man muss vorsichtig dabei sein. Man darf sich beim Anstarren nicht erwischen lassen. Wird man erwischt, behandeln sie einen wie einen Schwerverbrecher. Und vielleicht haben sie recht damit. Vielleicht sollte der Versuch, etwas zu sehen, von dem die Menschen nicht wollen, dass man es sieht, tatsächlich unter Strafe gestellt werden. An Greta beobachtete ich gerne, wie ihr dunkles, glattes Haar die Sonne reflektierte und dass die Enden der Bügel ihrer Brille aussahen wie zwei kleine verlorene Tränen, die sich hinter ihren Ohren versteckt hielten.
Meine Mutter hörteKICK FM, einen Sender für Countrymusik, und auch wenn ich Countrymusik nicht besonders mag, gelingt es den Stimmen dieser Menschen, die sich die Seele aus dem Leib singen, Erinnerungen heraufzubeschwören – an vergangene große Familiengrillfeste im Garten, an verschneite Berge mit Schlitten fahrenden Kindern und an Thanksgiving. An erbauliches Zeug. Deshalb hörte meine Mutter auf der Fahrt zu Finn gerne diesen Sender.
Während dieser Ausflüge in die Stadt redete niemand viel. Es gab nur das sanfte Dahingleiten des Autos und die schmalzige Countrymusik und den grauen Hudson River mit dem ausufernden New Jersey auf der anderen Seite des Flusses. Ich behielt Greta die ganze Zeit im Auge, weil es mich davon ablenkte, zu viel über Finn nachzudenken.
Unser letzter Besuch hatte an einem verregneten Sonntag im November stattgefunden. Finn war immer schon schmal gewesen – so wie Greta, so wie meine Mutter, so wie ich in meinen Träumen –, aber bei diesem Besuch sah ich, dass er in eine völlig neue Dimension von dünn vorgedrungen war. Alle seine Gürtel saßen zu locker, also zog er eine smaragdgrüne Krawatte durch die Schlaufen seiner Hose und verknotete sie auf Taillenhöhe. Ich starrte auf diese Krawatte und fragte mich, wann er sie wohl zuletzt getragen hatte, und ich versuchte mir gerade auszumalen, welche Gelegenheit für so etwas Leuchtendes und Irisierendes passend gewesen wäre, als Finn plötzlich von der Leinwand aufblickte, mit hoch erhobenem Pinsel, und uns mitteilte: »Es wird nicht mehr lange dauern.«
Greta und ich nickten, obwohl keine von uns beiden wusste, ob er das Gemälde oder sein Sterben meinte. Später, zu Hause, sagte ich meiner Mutter, er sähe aus wie ein Luftballon, aus dem die Luft entwichen ist. Greta sagte, er sähe aus wie eine winzige graue Motte, gefangen in einem grauen Spinnennetz. An Greta ist eben alles schöner, auch die Art, wie sie sich ausdrückt.
Jetzt war es Dezember, die Woche vor Weihnachten, und wir steckten auf Höhe der George Washington Bridge im Verkehr fest. Greta drehte sich zu mir um. Sie schenkte mir ein verschlagenes kleines Lächeln und griff in ihre Manteltasche, um ein Stück Mistelzweig herauszuholen. Das hatte sie auch die letzten zwei Jahre um die Weihnachtszeit immer gemacht – ein Stück Mistelzweig mit sich herumgetragen, um sich damit auf ihre Mitmenschen zu stürzen. Sie nahm es mit in die Schule und terrorisierte uns zu Hause damit. Ihr Lieblingstrick war, sich von hinten an unsere Eltern heranzuschleichen, hochzuspringen und ihnen dann den Zweig über den Kopf zu halten. Sie stellten ihre Zuneigung nie offen zur Schau, und genau deshalb fand Greta Vergnügen darin, sie dazu zu nötigen. Jetzt im Auto wedelte Greta direkt vor meiner Nase mit dem Zweig herum und strich immer wieder damit über mein Gesicht.
»Na warte, June«, sagte sie. »Ich halte diesen Mistel