1 Gefährdete Kindheit –
Aufbruch zu einer Zukunftsaufgabe
Fortschritt und Rückschritt – Zwiespalt unserer Zeit
Gestützt auf Funk und Satelliten, auf das «World Wide Web» und ein weltweit agierendes Transport- und Verkehrswesen fließen heute die Ströme der Waren und Finanzen, der Daten, Nachrichten und Informationen rund um den Globus an nahezu jeden beliebigen Ort. Das hat dazu geführt, dass die einzelnen Regionen der Welt – ungeachtet aller politischen, religiösen und kulturellen Verschiedenheiten – wirtschaftlich und finanziell immer stärker miteinander verflochten sind. Diese sogenannte Globalisierung wird trotz aller Probleme, die sie mit sich bringt, allenthalben als eine bedeutende Errungenschaft unserer Zeit angesehen, die uns dazu aufruft, global zu denken und global zu handeln.
Nun gehört es aber zur besonderen Signatur unserer Zeit, dass dem ungeheuren Fortschritt, den wir der modernen Technik und Naturwissenschaft verdanken, nicht weniger ungeheure Rückschritte gegenüberstehen. Der bekannteste davon ist die zunehmende Störung und Zerstörung der Natur und damit letzten Endes unserer Lebensgrundlagen auf diesem Planeten. Vorbei ist die Zeit, wo man noch ungestraft glauben konnte, «Mutter Natur» werde die Schädigungen schon irgendwie verkraften. Mit dem galoppierenden Artensterben im Pflanzen- und Tierreich, mit der Kontamination der Weltmeere und der Atmosphäre, mit der Versteppung riesiger Landstriche durch Raubbau, mit der atomaren Bedrohung und vielem mehr schlagen die Resultate egozentrischen Handelns auf uns selbst zurück.
Geschwächte Gesundheit und Konstitution
Einem zweiten Phänomen der Gleichzeitigkeit von Fortschritt und Rückschritt begegnen wir im Bereich der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen: Einerseits hat die moderne Medizin die Kindersterblichkeit auf ein früher nie gekanntes Maß reduziert, hat die klassischen Kinderkrankheiten fast ausgerottet, sichert immer besser das Überleben zu früh geborener Föten, das System der Vorsorgeuntersuchungen ist bestens ausgebaut, gute Ernährung steht zur Verfügung, Einrichtungen zur Bildung und Betreuung vom frühesten Alter an werden flächendeckend angeboten – um nur einiges zu nennen. Man kann also mit einem gewissen Recht sagen, dass es (zumindest in den westlichen Wohlstandsgesellschaften) Kindern noch nie so gut ging wie heute.
Und doch ist ebenso wahr, auch wenn das in der Öffentlichkeit gerne verdrängt wird, dass die Kindheit heute auf eine neue, bisher nicht bekannte Weise bedroht ist. Zwar wurden die klassischen Kinderkrankheiten durch weltweite Impfaktionen annähernd beseitigt. Dafür aber treten nun immer mehrchronische Krankheiten auf. Der Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann konstatierte bereits 2003:
« Im historischen Vergleich fällt auf, dass die Infektionskrankheiten und die jahrhundertelang mit Kindheit und Jugend verbundenen Epidemien und Mangelkrankheiten in den westlichen Gesellschaften heute weitgehend zurückgedrängt sind. (...) Das Krankheitsspektrum wird bei Kindern heute durch die ‹chronischen Krankheiten› beherrscht, die nicht wirklich heilbar sind, sondern fast wie eine Behinderung wirken. (...) Im Kindesalter treten heute vor allem die folgenden chronischen Krankheiten auf: Krebs, Diabetes mellitus, Rheuma, Epilepsie, Allergien, Endogenes Ekzem (= Neurodermitis), Asthma bronchiale, Adipositas und Magersucht, Auffälligkeiten im Wahrnehmungsbereich, ADHS, Lese-Rechtschreib-Schwäche, Rechenschwäche, psychosomatische und affektive Störungen, Angst- und Affektsyndrome, depressive Syndrome, Fehlernährung und Bewegungsmangel als Schlüsselprobleme.1»
So erschreckend diese Liste chronischer Krankheiten auch sein mag – sie gibt noch längst nicht das volle Ausmaß der Bedrohung wieder. Die von Hurrelmann als «Schlüsselprobleme» bezeichneten Faktoren Fehlernährung und Bewegungsmangel zeitigen seit Jahrzehnten ein wachsendes Bündel pathologischer Phänomene, das die Kinderärzte, Schulärzte und Sportwissenschaftler im Laufe der Jahre zu immer dringlicheren Alarmrufen veranlasste, ohne freilich die Situation grundlegend zu verändern. Ich greife hier einige Beispiele heraus:
•Im Jahr 2000 stießen die Gesundh