1. KAPITEL
Genevra Bravo-Calabretti, Prinzessin von Montedoro, hievte die Leiter aus leichtem Metall in die Höhe und brachte sie in eine aufrechte Position.
Mit größter Vorsicht lehnte sie die Leiter gegen die hohe Steinmauer, doch schon im nächsten Augenblick drohte sie wieder abzurutschen. Das Metall machte ein hässliches Geräusch auf den verwitterten alten Steinen. Genny zuckte zusammen. Unruhig sah sie sich um. Sie rechnete damit, dass der Lärm die Dienstboten aufscheuchen würde. Doch zu ihrer Erleichterung blieb alles still.
Es war eine milde Mainacht, und der Mond stand einer silbernen Sichel gleich am Himmel und warf ein blasses Licht auf die Szenerie. Das tröstete Genny allerdings kaum. Mit einem wenig prinzessinnenhaftenUff stemmte sie die Füße der Leiter ins Gras und stellte sicher, dass diese sich nicht mehr bewegte.
Ihr Atem ging schwer. Die Leiter den Hügel heraufzutragen war anstrengender gewesen, als sie gedacht hatte. Aber jetzt durfte sie keinen Rückzieher mehr machen.
Seufzend lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Mauer und ließ sich auf die Fersen nieder. Nur einen Moment ausruhen.
Von hier oben hatte man einen fantastischen Blick auf den Hafen. Die Lichter der Schiffe funkelten heimelig im Halbdunkel. All das war ihr so vertraut: das Meer, die sanften Geräusche der Wellen und der schwere Duft nach Rosen.
Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Sie sollte gar nicht hier sein. Sie sollte mit ihren Freunden in einem der unzähligen Cafés sitzen oder einen nächtlichen Strandspaziergang machen – und nicht hier herumschleichen, gänzlich in Schwarz gekleidet, wie ein Einbrecher, der sich unerlaubt Zutritt zu der Villa Santorno verschaffte.
Für einen Augenblick kämpfte sie mit den Tränen. Hatte sie denn eine Wahl? Nein. Und sie hatte weiß Gott schon genug Schmerz ertragen. Wut und Enttäuschung hatten sie in den vergangenen Wochen mürbe gemacht. Ganz zu schweigen von ihrem Körper. Ihre Hormone schienen verrückt zu spielen.
Sie wollte das nicht tun. Sie kam sich absolut lächerlich dabei vor. Lächerlich, aufdringlich und in höchstem Maße ungewollt. Bemitleidenswert.
Unwirsch rieb sie sich die Augen trocken. Genug jetzt. Sie war so weit gekommen, jetzt konnte sie es ebenso gut durchziehen.
Genny erhob sich, klopfte Schmutz und Staub vom Hosenboden und sah nach oben. Dummerweise reichte die Leiter nicht bis zur oberen Kante der Mauer. Voll Unbehagen fasste Genny die freie Stelle ins Auge. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als von dort aus zu klettern.
Schritt für Schritt erklomm sie die Leiter. Doch als sie oben angekommen war, bekam sie es mit der Angst. „Dämliche Idee“, flüsterte sie in die Dunkelheit. Die obere Kante war viel weiter von der Leiter entfernt, als es von unten den Anschein hatte.
Sie nahm all ihren Mut zusammen, streckte die Arme aus und zog sich hoch. In dem Augenblick, in dem sie sich abstieß, geriet die