EINLEITUNG
DIE BEIDEN SENECAS
Eine mögliche Beschreibung der Karriere Senecas als Schriftsteller, Denker, Dichter, Moralist und langjähriger engster Berater und Weggefährte des Kaisers Nero könnte lauten:
Ein Mann, zu dessen höchsten Idealen Besonnenheit, Vernunft und moralische Tugendhaftigkeit gehörten, wurde ins Zentrum der römischen Politik katapultiert. Er tat sein Bestes, die Launen eines irregeleiteten Despoten zu mäßigen, während er fortfuhr, die moralischen Abhandlungen zu veröffentlichen, die seine eigentliche Berufung waren. Als sein Einfluss im Palast schwand, zog er sich zurück und schuf in Abgeschiedenheit seine eindringlichsten und nachdenklichsten Werke über Tugend, Natur und Tod. Der Kaiser, dem er lange als Berater zur Seite gestanden hatte, bediente sich, wütend über Senecas Rückzug, eines Vorwandes, um ihn zur Selbsttötung zu zwingen. Seine ihm treu ergebene Frau wollte ihn in seinen nüchternen, tapferen Selbstmord begleiten, entschlossen, mit ihm in den Tod zu gehen, doch kaiserliche Truppen kamen dazwischen und retteten ihr Leben.
Eine andere Möglichkeit, dasselbe Leben zu beschreiben, könnte so lauten:
Ein schlauer Manipulant aus bescheidenen Verhältnissen erschmeichelte sich den Weg ins Machtzentrum des Römischen Reiches. Er nutzte seine glänzende Sprachbegabung dazu, sich als Philosoph darzustellen, nutzte in der Folge seinen großen Einfluss, um sich zu bereichern, und verschuldete einen Aufstand in Großbritannien durch die Wucherzinsen, zu denen er Geld an die Bewohner dieser Provinz verlieh. Nachdem er sich an den finstersten Verbrechen des Palastes als Mitverschwörer oder sogar als Anstifter beteiligt hatte, versuchte er seinen Ruf mit wohlbedacht ausformulierten literarischen Paradestücken zu retten. Als immer klarer wurde, dass der Zorn des Kaisers zur Gefahr für ihn wurde, suchte er Zuflucht am Altar der Philosophie, was ihn nicht hinderte, gleichzeitig ein Mordkomplott zu schmieden. Den letzten Trumpf in seinem Buhlen um Anerkennung spielte er mit seinem theatralischen Selbstmord aus, den mit ihm zu erleiden er seine Frau gegen ihren Willen überredete.
Das sind die beiden gegensätzlichen Vorstellungen, die die Römer des ausgehenden 1. Jahrhunderts von Seneca hatten, der eloquentesten, rätselhaftesten und politisch engagiertesten Persönlichkeit ihrer Zeit. Die erste ist weitgehend dem historischen DramaOctavia entnommen, das ein unbekannter Autor in den letzten Jahrzehnten des 1. Jahrhunderts geschrieben hat. Die zweite hat uns Cassius Dio überliefert, ein römischer Chronist, der mehr als hundert Jahre nach Senecas Tod lebte und sich auf die Schriften früherer Autoren stützte. Es besteht kein Zweifel daran, dass diese Autoren an der Wahrhaftigkeit Senecas zweifelten. Sie glaubten den Gerüchten, denen zufolge Seneca ein ausschweifendes und unersättliches Leben geführt, als Politiker alles dem kalten Kalkül der Macht untergeordnet und eine zentrale Rolle in einer Mordverschwörung gegen Nero im Jahr 65 gespielt hatte.
Zwischen diesen Extremen steht Tacitus, der größte aller römischen Historiker und die bei weitem beste Quelle für das Zeitalter Neros, auf die wir heute zurückgreifen können. Tacitus, ein scharfsinniger Erforscher der menschlichen Natur, war fasziniert von dem Philosophen, der die Vorzüge einer schlichten, arbeitsamen Lebensführung pries, während er zugleich Wohlstand und Macht anhäufte. Doch letzten Endes konnte auch Tacitus das Rätsel Seneca nicht lösen.
Tacitus wählte Seneca zum Protagonist