1. KAPITEL
Die Sonne stand tief über den Feldern, als der mattgrüne Landrover von Johannes Kuschel das Ortsschild von Waldeshöhe passierte. Links und rechts der Dorfstraße versteckten sich romantische Fachwerkhöfe hinter imposanten knorrigen Kastanien. Johannes hatte seine Heimat mehr vermisst, als er sich eingestehen wollte. Nach sechsundzwanzig Jahren im tiefsten Süden war er nun zurückgekehrt, zurück in die verträumte Idylle der Lüneburger Heide.
Am Ende des Dorfplatzes lenkte er den Wagen in eine alte Lindenallee und folgte dem mit Kopfsteinen gepflasterten Weg. Ein leises Jaulen neben ihm erinnerte ihn daran, dass er nicht der Einzige war, der ihrer Ankunft entgegenfieberte.
„Wir haben es ja gleich geschafft, Coco“, sagte sein zwölfjähriger Sohn Mats vom Beifahrersitz und steckte der fiependen Chihuahua-Dame auf seinem Schoß ein Leckerli zu.
Wenige Minuten später fuhren sie durch die Toreinfahrt eines alten Gehöfts. Die Bezeichnung Anwesen traf es wohl besser, denn das von hohen Buchen umgebene Hofgelände war eindrucksvoll. Vor ihnen erstreckte sich ein restaurierter Bauernhof aus rotem Backstein und Fachwerk, mit weißen Sprossenfenstern und einer breiten Tür, durch die man geradewegs in die Praxisräume gelangte, in denen Johannes ab dem folgenden Tag als Tierarzt von Waldeshöhe seinen Patienten helfen würde. Die private Wohnung, in die Johannes mit Mats einziehen würde, lag direkt über der Praxis. Hinter dem Haus begann eine großzügige Gartenanlage mit einer parkähnlichen Rasenfläche, die bis zum Waldrand reichte und deren Weitläufigkeit Johannes bei der Besichtigung des Hofes sofort begeistert hatte.
Kaum kamen die Räder des Landrovers auf den feinen Kieselsteinen der Einfahrt zum Halten, stieß Mats voller Ungeduld die Beifahrertür auf und stürmte hinaus.
„Immer mit der Ruhe“, rief Johannes seinem Sohn und dem braun-weiß gefleckten Hündchen hinterher, die beide zielstrebig auf die unebene Treppe zur Eingangstür zuliefen.
„Wow, das ist ja der Wahnsinn!“, sagte Mats begeistert, während er mit weit aufgerissenen Augen ihr neues Zuhause betrachtete. „Und hier werden wir jetzt wohnen? Echt?“
Johannes lachte und stieß die Wagentür hinter sich zu. „Echt.“
Einen Moment blieb er stehen und ließ seinen Blick über die Hofanlage wandern. Konnte dieser kleine Ort am Rande von Lüneburg wirklich ihr neues Zuhause werden? Ein Zuhause nur für Vater und Sohn, während Vanessa, Johannes’ zukünftige Ex-Frau und Mats’ Mutter, sich mit ihrem neuen Freund irgendwo in der Weltgeschichte herumtrieb? Beim Gedanken an sie verspürte Johannes einen Stich. Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, wieder in Grübeleien zu verfallen. Mats sollte trotz allem eine glückliche Kindheit verleben können. Das war schließlich auch der Hauptgrund für Johannes’ Entscheidung gewesen, nach Waldeshöhe zu ziehen. Das und die Tatsache, dass ihn in München einfach alles an Vanessa erinnerte.
Auf jeden Fall spürte er die Erleichterung darüber, die lange Fahrt überstanden zu haben. Sieben Stunden mit Sohn und Hund auf engstem Raum waren schon eine Herausforderung.
Johannes beschloss, das Gepäck erst einmal im Wagen zu lassen, und folgte den beiden zum Haus. Auf dem Weg atmete er tief die frische Luft ein, die bereits nach Heidehonig zu riechen schien. Doch dann wurde ihm klar, dass er sich das lediglich einbilden musste. Jetzt, im Frühjahr, war es noch viel zu früh. Erst im August und September würden dann Millionen fleißiger Bienen durch die Heideflächen summen und den berühmten Honig einsammeln.
„Hast du den Schlüssel?“, drängelte Mats ungeduldig, als Johannes die weiße Eingangstür erreichte.
„Ja, Moment.“ Doch als Johannes die Klinke berührte, bemerkte er, dass die Tür nur angelehnt war. „Merkwürdig, es scheint jemand im Haus zu sein. Bleib hinter mir, Mats.“
Doch kaum hatte Johannes die Tür