Eine halbe Stunde zuvor
Bei frühsommerlichem Wetter war eine Gruppe von Vertretern der Stadt und des Teams der Landesgartenschau, sowie Sponsoren und interessierte Bürgerinnen und Bürger ganz in der Nähe auf einem Parkplatz zusammengekommen. Anlass des Treffens war ein neuer Waldlehrpfad, der nun pünktlich zum Start der Hessischen Landesgartenschau, die in Bad Schwalbach stattfand, eröffnet werden sollte. Auch Norma hatte sich deswegen in den Bad Schwalbacher Wald aufgemacht. Als die Bürgermeisterin, eine füllige, warmherzig wirkende Mittfünfzigerin, die Anwesenden begrüßte, lenkte der durchdringende Ruf eines Greifvogels Normas Blick nach oben. Im wolkenbetupften Himmel schraubten sich zwei Rotmilane wie schwerelos in die Höhe. Als sie sich wieder den Umstehenden zuwandte, bemerkte sie ein Lächeln auf vielen Gesichtern. Elisabeth Behrensens Worte über das Unglück, das auch Chancen berge, passten zweifellos auch auf die Greifvögel und ihren Jagderfolg im vom Wald befreiten Areal. Vor vier Jahren hatte der Tornado ein kilometerlanges Band der Zerstörung bis hinunter in die Stadt geschlagen, die sich in trügerischer Sicherheit zwischen den steilen Taunushängen behaglich eingerichtet hatte. Wie verloren wand sich nun die Straße mit dem historischen Namen »Reitallee« durch den Windbruchhang, passierte nach einer Haarnadelkurve das Café Platte und streifte ein Stück weiter oberhalb den Waldparkplatz mit der Besucherschar. Von hier aus überschaute man die, wie Norma schätzte, gut vier Fußballfelder umfassende Fläche, auf der kaum ein Baum stehen geblieben war. Der neue Rundweg, die Tornado-Spur, zog sich auf frisch angelegten Pfaden und Brücken über den Berghang. Wer gute Augen hatte, erkannte tief unten zwischen Häusern und Straßen zwei grüne Täler, die sich wie die gespreizten Finger des Victoryzeichens dem Wald entgegenstreckten: die Hauptschauplätze der Hessischen Landesgartenschau, deren feierliche Eröffnung Norma vor zwei Tagen miterlebt hatte. Die Zeremonie an diesem Tag, hier oben im Wald, lief deutlich geruhsamer und bescheidener ab.
Der leichte Wind trug die helle Stimme der Bürgermeisterin davon. »… würdigen wir heute die Eröffnung der Tornado-Spur … Abenteuerpfad … Lehrpfad … über das Sturmholz hinweg und hindurch … die enorme Kraft der Natur, aber auch die Energie des Neubeginns … wie schön, zeitgleich mit der Landesgartenschau auch diese Attraktion …«
Norma verlor den Faden, hing ihren Gedanken nach. Mal kleiner, mal größer waren ihre Zweifel an ihrem derzeitigen Auftrag. Aus einer Laune heraus hatte sie sich dafür beworben, einen Internet-Blog über die Landesgartenschau zu führen, und damit prompt Gertraud Meering, die Initiatorin dieses Vorhabens, für sich eingenommen. Die alte Dame war von ihrer Enkelin darauf gebracht worden, einen Blog zur Gartenschau ins Leben zu rufen. Die gebürtige Bad Schwalbacherin war hingerissen von der Vorstellung, eine wahrhaftige Privatdetektivin zu engagieren. Norma sollte das Geschehen rund um die Landesausstellung mit detektivischem Spürsinn erkunden und mit subjektivem Blick kommentieren. Alle 14 Tage würde der Schreiber wechseln, und Norma war die Erste in der Reihe. Überrascht von der sc