1. KAPITEL
Mit einem wehmütigen Lächeln stellte Tina Mills eine Tasse des kostbaren Familiengeschirrs auf die dazugehörige Untertasse. Wie lange hatte sie das Royal-Doulton-Teeservice mit dem schönen Rosendekor nicht mehr in der Hand gehabt!
„Hier ist dein Tee, Daddy. So wie du ihn gerne magst.“ Es fiel ihr nicht schwer, sich den immerzu gut gelaunten Bill Mildenderger vorzustellen, wie er ihr gegenübersaß und genüsslich seinen Tee trank. Genau wie vor fünfundzwanzig Jahren.
Kaum zu glauben, wie viel Zeit vergangen war, seit sie hier im Esszimmer ihre Kindergeburtstage gefeiert hatte. Die Erinnerung an ihren Vater, der vor acht Jahren bei einem Autounfall auf dem Long Island Expressway ums Leben gekommen war, schmerzte sie immer noch sehr. Er war pharmazeutischer Handelsvertreter gewesen und hatte sich gerade auf dem Heimweg von einer seiner Reisen befunden.
Tina hatte damals an der Columbia University studiert. Als es passierte, saß sie gerade in einem Seminar über Filmschnitt. Sie erinnerte sich, dass sie plötzlich von einem Gefühl des Unwohlseins gepackt wurde, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als der Unfall geschah. Ein deutliches Zeichen dafür, wie nah sie und ihr Vater William E. Mildenderger sich immer gestanden hatten.
Wenige Monate später hatte Tina ihren Abschluss in der Tasche. Sie verließ Brooklyn und zog nach Tribeca, einem Stadtteil Manhattans, wo sie eine geräumige Dachgeschosswohnung gefunden hatte. Zusammen mit ihrer Studienkollegin Emmy Snow gründete sie eine eigene Filmproduktionsfirma, „Reality Flicks“.
Zu ihrem Erstaunen hatte ihr der Vater eine beträchtliche Geldsumme hinterlassen, wodurch die Gründung der Firma überhaupt erst möglich wurde.
Bereits nach einem Jahr konnten sie erste Erfolge verzeichnen. Ihr Dokumentarfilm über misshandelte Frauen erregte großes Aufsehen und erhielt weltweit Auszeichnungen. Seitdem drehten sie einen Film nach dem anderen und hatten sich zu einer gefragten Produktionsfirma entwickelt.
Inzwischen war Tina dreißig Jahre alt und dachte viel über ihre Vergangenheit nach. Sie saß am Esszimmertisch des altehrwürdigen Hauses im New Yorker Stadtteil Brooklyn, in dem sie aufgewachsen war, und betrachtete versonnen die Tasse mit dem Blumendekor in ihren Händen. Damals, vor vielen Jahren, hatte sie meist Zitronenlimonade daraus getrunken oder irgendetwas anderes, das keine Flecken machte.
Denn ihre Mutter Angela Winston Mildenderger hasste Unordnung. Es war ihr immer ein Dorn im Auge gewesen, wenn Tina und ihr Vater nachmittags zusammen Tee aus ihrem geliebten Porzellangeschirr getrunken hatten, und sie sich darüber sorgen musste, ob dabei womöglich die wertvolle Spitzentischdecke Flecken abbekam. Überhaupt war das Verhältnis zwischen Tina und ihrer Mutter nie sehr innig gewesen. Angela hatte sich ihrer einzigen Tochter gegenüber immer sehr kühl und distanziert gegeben. Sie hatte ihr niemals gezeigt, dass sie sie liebte.
Tina stand auf und ging zu einem riesigen Wandschrank, dessen Türen weit offen standen. Sie war gerade dabei gewesen, ihn auszuräumen, als ein Gefühl der Wehmut sie gepackt hatte. Mit einem melancholischen Lächeln auf den Lippen hatte sie sich an den Tisch gesetzt und an die alten Zeiten gedacht. Sie hatte nie verstanden, warum ihre Mutter stets so abweisend zu ihr gewesen war. Vielleicht h