Erstes Kapitel
Drei Ellen gute Bannerseide,
Ein Häuflein Volkes, ehrenwert,
Mit klarem Aug, im Sonntagskleide,
Ist alles, was mein Herz begehrt!
So end ich mit der Morgenhelle
Der Sommernacht beschränkte Ruh
Und wandre rasch dem frischen Quelle
Der vaterländ’schen Freuden zu.
Die Schiffe fahren und die Wagen,
Bekränzt, auf allen Pfaden her;
Die luft’ge Halle seh ich ragen,
Von Steinen nicht noch Sorgen schwer;
Vom Rednersimse schimmert lieblich
Des Festpokales Silberhort:
Heil uns, noch ist bei Freien üblich
Ein leidenschaftlich freies Wort!
Und Wort und Lied, von Mund zu Munde,
Von Herz zu Herzen hallt es hin;
So blüht des Festes Rosenstunde
Und muss mit goldner Wende fliehn!
Und jede Pflicht hat sie erneuet,
Und jede Kraft hat sie gestählt
Und eine Körnersaat gestreuet,
Die niemals ihre Frucht verfehlte
Drum weilet, wo im Feierkleide
Ein rüstig Volk zum Feste geht
Und leis die feine Bannerseide
Hoch über ihm zum Himmel weht!
In Vaterlandes Saus und Brause,
Da ist die Freude sündenrein,
Und kehr nicht besser ich nach Hause,
So werd ich auch nicht schlechter sein!
Dieses Lied sang der Fahnenträger des Seldwyler Männerchores, welcher an einem prachtvollen Sommermorgen zum Sängerfeste wanderte. Nachdem die Herren am Abend vorher aufgebrochen und einen Teil des Weges auf der Schienenbahn befördert worden waren, hatten sie beschlossen, den Rest in der Morgenkühle zu Fuß zu machen, da es nur noch durch schöne Waldungen ging.
Schon breitete sich der glänzende See vor ihnen aus mit der buntbeflaggten Stadt am Ufer, als die sechzig bis siebzig jüngeren und älteren Männer des Vereines in zerstreuten Gruppen durch einen herrlichen Buchenwald hinabstiegen und das hinter den großen Stämmen wohnende Echo mit Jauchzen und einzelnen Liederstrophen widerhallen ließen, auch etwa einem weiterhin niedersteigenden Fähnlein antworteten.
Nur der allen vorausziehende Fahnenträger, ein schlank gewachsener junger Mann mit bildschönem Antlitz, sang sein Lied vollständig durch mit freudeheller und doch gemäßigter Baritonstimme. Geschmückt mit breiter reich gestickter Schärpe und stattlichem Federhut, trug er die ebenso reiche, schwere Seidenfahne, halb zusammengefaltet, über die Schulter gelegt, und deren goldene Spitze funkelte hin und wieder im grünen Schatten, wo die Strahlen der Morgensonne durch die Laubgewölbe drangen.
Als er nun sein Lied geendet, schaute er lächelnd zurück, und man sah das schöne Gesicht in vollem Glücke strahlen, das ihm jeder gönnte, da ein eigentümlich angenehmes Lachen, wenn es sich zeigte, jeden für ihn gewann.
»Unser Jukundi«, sagten die hinter ihm Gehenden zueinander, »wird wohl der schönste Fähnrich am Feste sein.« Er führte nämlich den heiter klingenden Namen Jukundus Meyental und wurde mit allgemeiner Zärtlichkeit schlechtweg der Jukundi genannt. Es erwahrte sich auch die Hoffnung; denn als die Seldwyler, am Orte angekommen, sich zum Einzuge unter die langen Sängerscharen reihten, erregte seine Erscheinung, wo sie durchzogen, überall großes Wohlgefallen.
Denjenigen, welche schon mehrere Feste gesehen hatten, war er auch schon auf das vorteilhafteste bekannt als eine mustergültige Festerscheinung. Von steter Fröhlichkeit und Ausdauer vom ersten bis zum letzten Augenblicke, war Jukundi dennoch die Ruhe und Gelassenheit selbst; immer sah man ihn teilnehmend an jeder allgemeinen Freude und an jeder besonderen Ausführung, ausharrend und hilfreich, nie überlaut oder gar betrunken. Den schreienden Possenmacher wusste er zu ertragen wie den übellaunischen Festgast, der sich übernommen und die Freude verdorben hatte, und beide verstand er voll Duldung und Freundlichkeit aus allerlei Fährlichkeiten zu erlösen, wenn die allgemeine Geduld zu brechen drohte, und sie aus beschämendem Schiffbruche zu erretten. Selbst den bewusstlosen Jähzornigen führte er, alle Schmähungen überhörend, mit stillem Geschick aus dem Gedränge und erwarb sich Dank und Anhänglichkeit des Nüchterngewordenen.
In dieser Übung konnte er übrigens nur als eine Darstellung aller Seldwyler gelten, wenn sie zu Feste zogen. So ungeregelt und müßig sie sonst lebten, so sehr hielten sie auf Ordnung, Fleiß und gute Haltung bei solchen Anlässen. Rühmlich zogen sie auf und wieder ab, eine gut gemusterte einige Schar, solange die Lustbarkeit dauerte, und sich im voraus auf die zwanglose Erholung freuend, welche zu Hause nach so ernster Anstrengung sich langehin zu gönnen sein werde.
In dieser Weise hatten sie auch den Gesang, mit welchem sie am Sängertage um den Preis zu ringen gedachten, trefflich eingeübt und schonten ihre Stimmen mit großer Entbehrung. Sie hatten eine Tondichtung gewählt, welche »Veilchens Erwachen!« betitelt und auf irgendein nichtssagendes Liedchen aufgebaut, aber so künstlich und schwer auszuführen war, dass es schon Monate vorher ein großes Gerede gab an allen Orten, als ob die Seldwyler zu viel unternommen und sich dem Untergang ausgesetzt hätten.
Als aber der Tag der Wettgesänge vorgerückt war und in der mächtigen weiten Halle Tausende von Hörern vor fast so viel tausend Sängern saßen und das Häuflein der Seldwyler, da ihre Stunde gekommen, mit dem Banner einsam vortrat in dem Menschenmeere, da hielten sie den ebenso zarten als schweren Gesang durch alle schwierigen Harmonien und Verwickelungen hindurch aufrecht ohne Wanken und ließen ihn so weich und rein verhauchen, dass man das blaue Veilchenknöspchen glaubte leise aufplatzen und das erste Düftlein durch die Halle schweben zu hören.
Rauschend, tosend brach der Beifall nach der atemlosen Stille los, die erhabenen Kampfrichter nickten vor allem Volke sichtbar mit den Häuptern und sahen sich an, die goldenen Dosen ergreifend, Ehrengeschenke entlegen wohnender Fürsten und Völker, und sich gegenseitig Prisen anbietend; denn es befanden sich von den ersten Kapellmeistern darunter.
Die Seldwyler selbst traten mit ruhiger Haltung zurück und wussten ohne Aufsehen aus der Schlachtordnung sich hinauszuwinden, um in einem schattigen Garten ein mäßiges Champagnerfrühstück einzunehmen. Keiner begehrte mehr als seine drei...