Berufssuche undBerliner Tageblatt
Seit ich neunzehn Jahre alt war, hatte ich für Zeitungen geschrieben. 1915 veröffentlichte derZeitgeist, eine Beilage desBerliner Tageblatts, einen Artikel »Frauendienstjahr und Berufsbildung«. In der Nacht, bevor der Artikel erschien, bekam ich eine tödliche Angst, ich stand auf, zog mich an, aber schon beim Strumpfanziehen wurde mir klar, daß man keine Schnellpresse anhalten kann. Ich erkannte, daß ich zu wenig wußte, und faßte deshalb in dieser schrecklichen Nacht den Entschluß, mein Abiturium zu machen und zu studieren. Als ich zum Frühstück kam, sagte meine Münchner Mama: »Ja, wie schaust du denn aus?« Als der Artikel erschien, sah ich, daß meine Angst völlig berechtigt war. Ein junges Mädchen aus guter Familie hatte nicht in Zeitungen zu schreiben. Ich begegnete allgemeiner Verachtung. In meiner angeborenen Wirrköpfigkeit meldete ich mich bei bekannten Gymnasialkursen an, um mein Abiturium nachzumachen, und brachte ein weißes Kostüm zum Schwarzfärben, nichts ahnend, daß man nie mehr ein weißes Kostüm würde kaufen können, erst wegen Krieg, dann wegen Inflation, weil ich hoffte, damit älter auszusehen. Es war alles der gleiche Unsinn. Für künftige Laufbahn und Unterhaltverdienen war Abiturium und Doktor, womit ich meine Jugend verdorben hatte, völlig überflüssig, genau wie das Schwarzfärben des einst so hübschen weißen Kostüms, denn als ich ins Zimmer trat, rief der Redakteur desZeitgeistes: »Wenn ich gewußt hätte, daß Sie so jung sind, hätte ich den Artikel nicht gebracht.« Das Honorar, das erste größere Geld, fünfzig Mark, wurde mir aus der Manteltasche auf dem Schulkorridor gestohlen.
Bild 2: TitelseiteBerlinerTageblatt 1922: Walther Rathenau ermordet
Nach der Stabilisierung der Mark 1924 hatte mir Erich Vogeler, Feuilletonchef desBerliner Tageblatts, für den ich seit 1920 Feuilletons schrieb, den Posten einer Gerichtsberichterstatterin angeboten. Ich sollte es wenigstens versuchen. Er nannte mir einen Fall, Ort und Zeit der Verhandlung. Man konnte einem Menschen die Wege nicht liebevoller ebnen. Ich ging in dem Gerichtsgebäude die Treppe zum Zuhörerraum hinauf, aber ich konnte mich nicht entschließen, die Tür zum Gerichtszimmer zu öffnen. Nach einer Weile ging ich die Treppe wieder hinab. »Dumm und lebensunfähig«, nannte ich mich selber. Auf der Straße sprach mich ein Arbeiter an: »Was fehlt Ihnen denn, Fräulein?« Aber auch hier hatte ich keine Antwort. Es war Heinz, der immer erklärte: »Aber Sie wissen doch, meine Frau kann keine Türen öffnen, ist also die geborene Journalistin.«
Ich fuhr im Sommer nach Hiddensee, das der Sommerwohnsitz Gerhart Hauptmanns war und überhaupt beliebt bei der höheren Bohème. Hauptmann, wie ein römischer Imperator in ein weißes Frottiertuch gewickelt, öffnete mir einmal mit unvergleichlicher Grandezza eine Gartenpforte. Thomas Mann war da und nahm ihm Maß, um ihn als Peeperkorn in denZauberberg einzuarbeiten. Thomas Mann war nervös, denn im Hotelgarten wurde mit Pfeil und Bogen geschossen, und seine kleinen Kinder flitzten herum, tatsächlich in ständiger Gefahr. Heinz war zur gleichen Zeit wie das Ehepaar Mann im Waldsanatorium Davos, dem »Zauberberg«, und kannte Leute aus dem Roman, nicht den Naphta, der ja Züge des ungarischen Philosophen Lucács trägt, auch nicht Hauptmann, der nicht dort war, wohl aber glaubte er Settembrini zu erkennen, sowohl die geistige Haltung wie seine Sprache, seinen Tonfall, und zwar sei er weitgehend, meinte Heinz, ein Dr. Berlin, der damals im Waldsanatorium war. Dr. Berlin war ein russischer Jude. Hein