1. Das Ende der Arbeit?
Am 21. März 1989 legt ein gewisser Ulrich Renz sein zweites medizinisches Staatsexamen an der Medizinischen Hochschule zu Lübeck ab.
Die Prüfung läuft so einigermaßen, aber richtig mit Herzblut ist der Kandidat nicht dabei. Die Uni spielt in seinem Leben mittlerweile eher die zweite Geige, und ob er überhaupt Arzt werden will, ist fraglich geworden. Denn das richtige Leben tobt gerade woanders: in einem Dachzimmer seiner Studenten-WG. Das Bett hat einem improvisierten Schreibtisch Platz gemacht, der den Raum fast vollständig einnimmt und an dem mehr oder weniger rund um die Uhr gearbeitet wird. Kommilitonen, Freunde, die Freundinnen der Freunde und neuerdings sogar eine Halbtagssekretärin bearbeiten Tatstaturen, zeichnen Abbildungen, fluchen über Computerabstürze (wir schreiben, wie gesagt, das Jahr 1989, der Arbeitsspeicher eines PC entspricht dem Hirnvolumen einer Qualle), und über nicht lesbare Floppy Disks (das sind diese rechteckigen Dinger Sie wissen schon). Auf dem Tisch stehen tonnenschwere Monitore, daneben und auf dem Boden stapeln sich Ausdrucke und Korrekturfahnen. Leere Bierflaschen und Pizzaschachteln sorgen für eine Auflockerung der Papierturmlandschaft. Das Summen der Lüfter schafft zusammen mit der Abwärme der Geräte und dem Ozon aus dem Laserdrucker eine sinnlich-dichte Arbeitsatmosphäre.
Ach ja, fast vergessen: Der kleine Paul, zwei Jahre alt, tummelt sich gern unter dem Schreibtisch, und drückt auf alle möglichen und unmöglichen Knöpfe. Er istso süß, aber trotzdem stellt sich große Erleichterung ein, wenn er abends endlich der von der Arbeit kommenden Mama in die Hände gedrückt werden kann. Schließlich rückt der Manuskriptabgabetermin unerbittlich näher.
Aber dann, im selben Jahr, ist es doch noch so weit. Ich halte es in den Händen, dasBuch,das Buch,unserBuch! Ein Kompendium für die Kitteltasche, auf Dünndruckpapier, die Bibel für Jungärzte.
Die Party beginnt
Für die Menschheit entscheidender ist allerdings eine andere Begebenheit dieses Jahres: Am 9. November fällt in Berlin die Mauer. Das Ende einer Säkularreligion namens »Kommunismus« ist eingeläutet, die Aufteilung der Welt in zwei getrennte Sphären Geschichte. Aus Feinden sind potenzielle Kunden geworden, aus verbotenen Zonen Absatzmärkte.
Auch wenn der Mauerfall in die Geschichtsbücher alsdas Ereignis des Jahres eingehen sollte: Ganz im Verborgenen tut sich 1989 etwas, das sich auf Dauer als mindestens genauso bedeutsam erweisen wird: Am Forschungszentrum CERN in Genf entwickelt ein britischer Physiker namens Tim Berners-Lee sein »Hypertext-System«, das unter der BezeichnungWorld Wide Web aus einem interkontinentalen Kabelsalat das Massenkommunikationsmittel macht, das wir heute unter dem Namen »Internet« kennen.
Mit dem Ende der bipolaren Welt und ihrer digitalen Vernetzung sind die Voraussetzungen für jene Kommunikations- und Transaktionsexplosion geschaffen, die wir heute alsdie Globalisierung bezeichnen auch wenn diese in Wirklichkeit nur ein weiterer Schub eines Globalisierungsprozesses ist, der seinen Anfang schon gegen Ende des Mittelalters mit der Entdeckung Amerikas genommen hat und sich seither Welle um Welle beschleunigt.
Mit den 1990er Jahren wird daraus ein Globalisierungs-Tsunami. Alle sind jetzt mit allen verbunden, Gedanken, Informationen und Geschichten verbreiten sich blitzschnell um den Globus, Kunden und Produzenten finden sich auf einem riesigen Markt der Möglichkeiten wieder, in Echtze