Amerikanisches Idyll
David Lynchs Mutter war ein Stadtmensch. Sein Vater stammte vom Land. Das ist ein guter Ausgangspunkt für diese Geschichte, denn es ist eine Geschichte über Dualität. »Alles ist heikel und empfindlich, die ganze Menschheit, und die Welt ist unvollkommen«, hat Lynch festgestellt, und dies ist eine zentrale Erkenntnis in Bezug auf alles, was er geschaffen hat.1 Wir leben in einem Reich der Gegensätze, an einem Ort, wo Gut und Böse, Geist und Materie, Glaube und Vernunft, unschuldige Liebe und fleischliche Lust in einem unsicheren Waffenstillstand nebeneinander existieren. Lynchs Arbeit bewegt sich in jenem komplizierten Bereich, wo das Schöne und das Verkommene miteinander kollidieren.
Lynchs Mutter Edwina Sundholm entstammte einer Familie finnischer Einwanderer und wuchs in Brooklyn auf, mitten im Rauch und Schmutz der Großstadt, im Dunst von Öl und Benzin, wo die Natur längst überlistet und ausgemerzt worden war. Diese Dinge gehören als integrale Bestandteile zu Lynchs Persönlichkeit und seiner Weltsicht. Sein Urgroßvater väterlicherseits besaß ein Stück Land im Weizenanbaugebiet in der Nähe von Colfax im Staat Washington. Dessen Sohn Austin Lynch wurde dort im Jahr 1884 geboren. Holzmühlen und majestätische Bäume, der Geruch von frisch gemähtem Gras, nächtliche Sternenhimmel, wie sie nur außerhalb der großen Städte zu sehen sind – all das gehört ebenfalls zu Lynch.
David Lynchs Großvater baute Weizen an, genau wie sein Vater. Nachdem sie sich auf einer Beerdigung kennengelernt hatten, heirateten Austin und Maude Sullivan, ein Mädchen aus St. Maries, Idaho. »Maude war sehr gebildet und forderte unseren Vater ziemlich heraus«, sagt Lynchs Schwester Martha Levacy über ihre Großmutter, die als Lehrerin in einer Ein-Klassen-Schule arbeitete. Diese Schule stand auf einem Grundstück in Highwood, Montana, das ihr und ihrem Ehemann gehörte.2
Austin und Maude Lynch hatten drei Kinder: David Lynchs Vater Donald war das zweite und wurde am 4. Dezember 1915 in einem Haus ohne fließendes Wasser und Elektrizität geboren. »Er wohnte an einem trostlosen Ort und liebte Bäume, weil es in der Prärie keine Bäume gab«, erzählt Davids Bruder John. »Er war so sehr darauf erpicht, kein Farmer in der Prärie zu sein, dass er in die Forstwirtschaft ging.«3
Donald Lynch machte gerade seinen Abschluss in Insektenkunde an der Duke University in Durham, North Carolina, als er dort 1939 Edwina Sundholm kennenlernte. Sie studierte Deutsch und Englisch. Die beiden trafen sich zufällig auf einem Spaziergang durch den Wald, und sie war beeindruckt, weil er so höflich war, einen niedrigen Zweig hochzuhalten, damit sie darunter hindurchgehen konnte. Am 16. Januar 1945 heirateten sie in einer Marinekapelle auf Mare Island in Kalifornien, dreiundzwanzig Meilen nördlich von San Francisco. Kurz darauf bekam Donald einen Job als Forscher beim Department of Agriculture in Missoula, Montana. Nachdem sie sich dort niedergelassen hatten, gründeten sie eine Familie.
David Keith Lynch war ihr erstes Kind. Er wurde am 20.