KAPITEL 1
Proteine I
Der schlank machende Eiweißeffekt
Vom aufschlussreichen Kannibalismus der Mormonengrille
Im Jahr 2001 zog sich eine Gruppe von Freunden aus dem englischen Oxford für eine Woche in ein Chalet in den südlichen Schweizer Alpen zurück. Die Clique hatte sich nicht zum Wandern oder Skifahren in diese Idylle begeben, nein, sie war hergekommen – zum Essen.
In dem Ferienhaus erwartete alle ein üppiges Buffet. Dann begann eine Pilotstudie, die ein Meilenstein in der Geschichte der Übergewichtsforschung markiert. Die Erkenntnisse sind von entscheidender Bedeutung für jeden, der auf wirksame Weise (sprich: möglichst ohne allzu großen Hunger) Gewicht verlieren will. Dass die Befunde bislang dennoch von der Öffentlichkeit und selbst von den meisten Ernährungsexperten weitgehend ignoriert wurden, liegt wohl daran, dass die Untersuchung von zwei Wissenschaftlern ins Leben gerufen wurde, die nun wirklich nicht zur klassischen Zunft der Ernährungsmedizin gehören. Es sind die australischen Insektenforscher Stephen Simpson und David Raubenheimer.Insektenforscher, wirklich? Das soll relevant sein für meine Diät? Sehr relevant sogar.
Also, los geht’s: Simpson und Raubenheimer hatten bei ihren Insektenbeobachtungen eine sonderbare Entdeckung gemacht. Ich werde das entdeckte Prinzip beispielhaft am Verhalten der Mormonengrille beschreiben, die der Forscher Simpson detailliert studiert hat.20
Die Mormonengrille, groß wie ein Daumen und dunkelbraun, gehört trotz ihres Namens eigentlich zu den Heuschrecken. Und wie es Heuschrecken berüchtigterweise tun, zieht auch die Mormonengrille im Frühjahr zu Millionen durchs Land (mit einer Geschwindigkeit von einem bis zwei Kilometern pro Tag), in diesem Fall durch die Graslandschaften im Westen der USA. Warum um Himmels willen tun die Tiere das?, fragte sich Simpson.
Nun war dem Insektenspezialisten klar, dass es der Hunger sein musste, der die Tiere in Bewegung setzt. Das Merkwürdige war nur: Im Gegensatz zu anderen Heuschrecken hinterlässt die Mormonengrille bei ihrem Feldzug keineswegs die übliche kahl gefressene Landschaft. »Tatsächlich ist es oft schwer zu sagen, ob eine Truppe gerade durch die Gegend hindurchmarschiert ist«, stellte Simpson verblüfft fest.21 Diese Tiere ziehen aus, krabbeln los auf der Suche nach Futter, lassen dabei jedoch aus rätselhaften Gründen das Gras, durch das sie wandern, links und rechts liegen. Was soll das? Wonach suchen die Tiere?
Simpson sah genau hin, als er bemerkte, dass die Grillen unterwegs durchaus aßen, wenn auch auf sehr wählerische Weise. Sie bedienten sich zum Beispiel bevorzugt bei Pusteblumen, bei den Blättern von Hülsenfrüchten, sie futterten Aas, Kot und nicht zuletzt:einander.
Der Kannibalismus der Mormonengrille hat bei den Einwohnern von US-Staaten wie Utah und Idaho einen fast schon legendären Ruf, weil er sich dort als zuverlässiger Störfaktor des Autoverkehrs etabliert hat: Wird eine Grille beim Überqueren einer Straße überfahren, eilen sofort einige mitfühlende Artgenossen herbei, um über den verendeten Kameraden herzufallen, nur um dann ihrerseits von einem Reifen plattgemacht zu werden, was wiederum die nächste Welle von Artgenossen heranlockt usw. bis hin zur Massenkarambolage.
Da kam dem Forscher ein Verdacht. Um ihm nachzugehen, machte er ein Experiment. Simpson bereitete vier kleine Schalen mit pulverisierter Nahrung vor, die entweder aus Eiweiß (= Protein), aus Kohlenhydraten oder aus einer Mischung von beidem bestand. Eine letzte Schale diente zur Kontrolle, sie enthielt weder Kohlenhydrate noch Proteine, sondern lediglich Ballaststoffe, Vitamine und Salz. Der Wissenschaftler stellte die Schälchen mitten in die Marschroute der Mormonengrillen und beobachtete gespannt, was passieren würde.
Es zeigte sich, dass die Insekten sich nicht großartig für die puren Kohlenhydrate interessierten, obwohl sie in der Natur sehr wohl auch Kohlenhydrate futtern. Dagegen versammelten sich alle entweder um die Kohlenhydratschale, die mit Protein angereichert war – lieber noch aber um die Schale mit dem hochprozentigen, »unverdünnten« Protein. In Lebensmittel übersetzt, könnte man sagen: Statt auf die Bratkartoffeln stürzten sich alle auf das Steak.
Abb. 1.1 Mormonengrillen auf der Suche nach Eiweiß. Die Schale ganz links (P:C) enthält 21 Prozent Protein und 21 Prozent Kohlenhydrate (