Kapitel 1
Die Wahrheit über Ihre Schilddrüse
Der große Tag ist gekommen, Sie stehen früh auf. Sie ziehen sich sorgfältig an, essen sich beim Frühstück ordentlich satt, schicken Ihrer Chefin zur Erinnerung die Nachricht, dass Sie später kommen werden. Und im Wagen auf dem Weg zum Arzttermin regt sich die Hoffnung, dass Sie Ihr Leben bald besser im Griff haben werden als jetzt.
Sie werden nun endlich erfahren, weshalb Sie zu wenig Schlaf bekommen, Gewichtsprobleme haben, ständig gegen den Gehirnnebel ankämpfen müssen, weshalb Ihnen das Haar ausgeht und Sie sich immer fix und fertig fühlen. Irgendwie, denken Sie, wird sich doch wohl feststellen lassen, was da los ist mit diesen Hitzewallungen, den kalten Händen und Füßen, den brüchigen Nägeln, der trockenen Haut, dem Herzflattern, den unruhigen Beinen, dem schlechten Gedächtnis, diesen schwebenden Flecken im Gesichtsfeld, der Muskelschwäche, den Hormonschwankungen, dem Schwindel, dem Kribbeln und den Taubheitsgefühlen, dem Klingen und Summen in den Ohren, den wechselnden Schmerzen, der Angst, der Depression. Im Wartezimmer können Sie sich kaum auf die Illustrierte auf Ihren Knien konzentrieren. Endlich werden Sie aufgerufen.
Man führt Sie ins Untersuchungszimmer, wo Sie Platz nehmen und gleichmäßig zu atmen versuchen. Ein paar Minuten später betritt der Arzt den Raum. Nach der Begrüßung und einem kurzen Smalltalk eröffnet er Ihnen: »Sie haben eine Hashimoto-Thyreoiditis.«
Beinah sind Sie erleichtert, endlich haben Ihre Beschwerden wenigstens einen Namen. Der sagt Ihnen allerdings nicht viel. »Was ist das?«, fragen Sie.
»Ihre Blutwerte, die wir jetzt bekommen haben«, erklärt Ihr Arzt, »lassen eine erhöhte Präsenz von Schilddrüsenantikörpern erkennen. Neben dem erhöhten schilddrüsenstimulierenden Hormon Thyreotropin deuten auch die bei der letzten Untersuchung festgestellte Vergrößerung der Schilddrüse und die aufgetretenen Symptome einer Schilddrüsenunterfunktion darauf hin, dass Ihr Immunsystem gestört ist. Wir sprechen hier von einer Autoimmunreaktion. Ihr Körper greift Ihre Schilddrüse an, als handelte es sich um einen Fremdkörper. Das lässt die Drüse anschwellen und wird sie mit der Zeit ernsthaft schädigen, da ihre Funktion Schritt für Schritt zurückgefahren wird.«
Von der erhofften Erleichterung ist nicht mehr viel übrig bei dieser Vorstellung, dass Ihr eigenes Immunsystem über diese unschuldige kleine Drüse an Ihrem Hals herfällt. Wäre die Diagnose doch wie Ihre online bestellten Schuhe, die Sie zurückschicken konnten, als sich herausstellte, dass sie drückten! »Passen nicht«, haben Sie einfach auf dem Retourenschein notiert und waren auch schon von den Schuhen befreit – um sich wirklich passende zu suchen.
Stattdessen müssen Sie sich jetzt der Realität stellen. »Wie konnte es denn dazu kommen?«, fragen Sie nach.
»Vielleicht liegt eine genetische Disposition zu Autoimmunreaktionen vor, und es genügten dann zur Auslösung äußere Faktoren wie Bakterien, die Ernährung oder Stress«, erhalten Sie als mögliche Antwort.
»Aber wie kommt der Körper denn dazu, sich gegen sich selbst zu wenden? Wie kann er sich derart irren?«
»Tja«, heißt es nun, »die genauen Ursachen von Autoimmunerkrankungen sind noch nicht bekannt.« Sie ernten ein mitfühlendes Lächeln. »Aber die Forschung macht hier fast täglich große Fortschritte. Jetzt sollten wir jedenfalls erst einmal die medikamentöse Behandlung einleiten.«
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