KAPITEL 1
Avery Stafford
AIKEN, SOUTH CAROLINA, HEUTE
Ich hole tief Luft, rutsche vor an die Kante und streiche meine Jacke glatt, als die Limousine auf dem brüllend heißen Asphalt zum Stehen kommt. Übertragungswagen verschiedener Nachrichtensender säumen den Straßenrand, was zeigt, wie wichtig dieser scheinbar harmlose Termin in Wahrheit ist.
Keine einzige Sekunde an diesem Tag ist dem Zufall überlassen. Während der letzten beiden Monate ging es in South Carolina ausschließlich darum, an den Nuancen zu feilen – dafür zu sorgen, dass sich alles ausschließlich im Bereich vonAndeutungen undHinweisen bewegt.
Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für klare Ansagen.
Noch nicht.
Und wenn es nach mir geht, wird sich daran so schnell nichts ändern.
Ich wünschte, ich könnte einfach vergessen, weshalb ich nach Hause zurückgekehrt bin, doch allein die Tatsache, dass mein Vater weder seine eigenen Notizen noch das Briefing seiner überkorrekten PR-Beraterin Leslie durchgeht, lässt keine Zweifel aufkommen: Der Feind, der uns begleitet, lässt sich nicht ignorieren. Er ist da, auf dem Rücksitz, in dem dunkelgrauen Maßanzug, der eine Spur zu locker um die breiten Schultern meines Vaters sitzt.
Daddy hat den Kopf zur Seite geneigt und blickt aus dem Fenster. Seine Helfer und Leslie hat er in den zweiten Wagen verbannt.
»Geht’s dir gut?«, frage ich und zupfe ein langes blondes Haar – meins – vom Sitz, damit es beim Aussteigen nicht an seiner Hose kleben bleibt. Meine Mutter würde jetzt eine Mini-Fusselbürste zücken, aber sie ist zu Hause, um das zweite große Ereignis dieses Tages vorzubereiten – ein Familienweihnachtsfoto, das sicherheitshalber schon jetzt, Monate vor dem Fest, aufgenommen werden muss … falls Daddys Zustand sich verschlechtern sollte.
Er setzt sich ein wenig auf und hebt den Kopf. Sein graues Haar ist statisch aufgeladen und steht ab. Ich unterdrücke den Impuls, die Hand auszustrecken und es glatt zu streichen. Es wäre ein grober Verstoß gegen das Protokoll.
Im Gegensatz zu meiner Mutter – der Herrin über die kleinen, aber unerlässlichen Details unseres Lebens, wie ein Weihnachtsfoto im Juli oder eine Fusselbürste in der Handtasche – ist mein Vater distanziert, eine einsame Insel aufrechter Männlichkeit in einem Haushalt voller Frauen. Ich weiß, dass ihm meine Mutter, meine beiden Schwestern und ich sehr am Herzen liegen, doch er verleiht seiner Zuneigung nur sehr selten Ausdruck. Ich weiß auch, dass ich zwar sein heimliches Lieblingskind bin, ihn gleichzeitig jedoch am meisten durcheinanderbringe. Mein Vater stammt aus einer Ära, in der Frauen sich lediglich für einen höheren Bildungsabschluss entschieden haben, um auf dem College möglichst schnell einen Ehemann zu finden und eine Familie zu gründen, deshalb weiß er nie so recht, was er von einer dreißigjährigen Tochter halten soll, die ihr Jurastudium an der Columbia Law als Jahrgangsbeste abgeschlossen hat und die sichtlich Spaß daran hat, im U.S. Attorney’s Office zu arbeiten, wo es bekanntermaßen nicht gerade zimperlich zugeht.
Vielleicht weil der Platz derperfektionistischen Tochter und dersüßen Tochter in unserer Familie bereits vergeben waren, bin i