Kapitel 1
Die gelben Scheinwerfer durchschnitten den Nebel, der von der Seine aufstieg und Eschen, Erlen und Buchen an der Uferstraße umhüllte wie ein weißes Tuch aus Leinen. Wie ein Leichentuch, fuhr es Étienne Balsan durch den Kopf.
Vor seinem geistigen Auge formte sich das Bild eines aufgebahrten Toten: zerschmetterte Glieder, verbrannte Haut, von Linnen bedeckt. Zu Füßen des Verstorbenen lag ein Buchsbaumzweig, auf seiner Brust ein Kruzifix. Neben seinem Kopf stand eine Schale mit Weihwasser, das den Geruch des Todes dämpfte. Das Licht von Kerzen warf gespenstische Schatten auf die Leiche, die von Nonnen so hergerichtet worden war, dass der Anblick nicht allzu verstörte.
Unwillkürlich versuchte sich Étienne vorzustellen, wie das schöne Gesicht seines Freundes entstellt sein mochte. Er kannte es fast ebenso gut wie sein eigenes.
Wahrscheinlich ist nicht viel übrig geblieben von den ebenmäßigen Zügen, den elegant geschwungenen Lippen und der geraden Nase, beantwortete er sich seine Frage. Wenn ein Automobil ungebremst eine Böschung hinabraste, gegen eine Felswand schlug und Feuer fing, blieben nicht viele Knochen an Ort und Stelle. Es bedürfte gewiss einiger Kunstfertigkeit, die Ansehnlichkeit des tödlich Verunglückten wiederherzustellen.
Er spürte ein feuchtes Rinnsal seine Wange hinablaufen. Regnete es in den Wagen? Er wollte den Scheibenwischer einschalten, wobei er so hektisch danach suchte, dass das Automobil seitlich ausbrach. Als er panisch auf die Bremse trat, spritzte Matsch gegen das Seitenfenster. Endlich quietschte das Gummi über die Scheibe. Es regnete nicht. Tränen rannen aus seinen Augen, eine Welle der Müdigkeit und Trauer lastete auf ihm, drohte über ihm zusammenzubrechen. Wenn er jedoch nicht enden wollte wie sein Freund, musste er sich auf die Straße konzentrieren.
Der Wagen stand quer zur Fahrbahn. Étienne zwang sich zu einem ruhigen Atemrhythmus, schaltete den Scheibenwischer ab, umfasste das Steuerrad mit beiden Händen. Der Motor heulte auf, als er auf das Gaspedal trat, die Räder drehten durch. Nach einem Rucken fand das Automobil in seine Spur zurück. Er spürte, wie sich sein Herzschlag normalisierte. So spät nach Mitternacht gab es glücklicherweise keinen Gegenverkehr.
Er zwang sich, den Blick starr auf die Straße zu richten. Hoffentlich kreuzte kein Nachttier seinen Weg. Er hatte keine Lust, einen Fuchs zu überfahren, wenn, dann entsprach die Fuchsjagd hoch zu Ross schon mehr seinem Naturell. Genauso hatte sein Freund gefühlt, die Liebe zu Pferden hatte sie verbunden. Arthur Capel, der ewig Jugendliche, der seinen kindlichen SpitznamenBoy niemals hatte ablegen können, war ein phantastischer Polospieler – gewesen. Boy war ein Bonvivant gewesen, ebenso intellektuell wie charmant, durch und durch Gentleman, ein britischer Diplomat, im Krieg zum Hauptmann befördert und ein Typ, den jeder gern seinen Kameraden nannte. Étienne konnte sich glücklich schätzen, einer seiner ältesten und besten Freunde zu sein. Gewesen zu sein …
Wieder rollte eine Träne über Étiennes sonnengegerbte Wange. Doch er nahm seine Hand nicht vom Lenkrad, um sie wegzuwischen. Er sollte sich nicht mehr ablenken lassen von den eigenen Gedanken, wenn er mit heiler Haut in Saint-Cucufa ankommen wollte. Diese Fahrt war der letzte Dienst, den er dem Toten erweisen konnte. Er musste Coco die furchtbare Nachricht überbringen, bevor sie es morgen aus den Zeitungen oder durch den Anruf einer Klatschbase erfuhr. Es war wahrlich keine schöne Aufgabe, aber eine, die er mit dem Herzen erledigte.<