1. KAPITEL
Zehn Jahre später
Kate Jones hielt vor dem „Rose Café“ auf der Magnolia Avenue und ließ den Blick über das Herz von Pleasantville schweifen. Herz? Als sie dem Ort vor zehn Jahren den Rücken gekehrt hatte, hatte er kein Herz gehabt, und nach dem letzten Telefonat mit ihrer Mutter hatte sich daran offenbar nichts geändert.
Edie hatte nicht alles erzählt, was sie während der letzten Wochen ihres Aufenthalts von den Bewohnern dieser Stadt zu hören bekommen hatte. Bei dem, womit sie herausgerückt war, hatten Kate allerdings die Haare zu Berge gestanden. Das einzig Positive an der Sache war, dass Edie endlich den Absprung geschafft hatte.
Bislang hatte sie sich beharrlich geweigert, Pleasantville zu verlassen, aber nach dem Tod von Mayor Winfield, der Eröffnung seines Testaments und dem bösartigen Tratsch hatte sie ihre Meinung geändert. Kate hatte sich fürchterlich aufgeregt und kein Blatt vor den Mund genommen, Edie aber verschwiegen, dass sie die Wahrheit über die Beziehung zwischen ihrer Mutter und Mayor Winfield längst kannte.
Auf den ersten Blick sah die Stadt aus wie immer. Nur wirkten die Straßen etwas dreckiger als in Kates Erinnerung und die Gebäude etwas trister. Etliche Schaufenster in der einst belebten Einkaufsstraße waren mit Brettern vernagelt, nur vereinzelt sah man Passanten auf den Gehwegen. Das einstmals leuchtende Smaragdgrün der Bänke um den Springbrunnen auf dem Stadtplatz war verblasst. Egal, Kate würde nicht lange bleiben. Sie würde ihren Auftrag erfüllen und gehen. Endgültig.
Gerade als sie aus ihrem Geländewagen steigen wollte, klingelte das Handy. „Kate, ich werde noch verrückt! Sag, dass du auf dem Heimweg bist.“
Kate lachte, als sie die Stimme ihres Geschäftspartners erkannte. „Armand, erstens bin ich erst einen Tag weg, und zweitens warst du schon verrückt, bevor wir uns kennen gelernt haben.“
„Arm und verrückt. Jetzt bin ich reich und einem derartigen Stress einfach nicht gewachsen. Mir die ganze Verantwortung aufzuhalsen! Das wirst du büßen! Ich hafte für nichts, was während deiner Abwesenheit beiBare Essentials passiert, ist das klar?“
„In zwei, drei Tagen kann nicht viel schief gehen. Was ist denn los?“
„Die Lieferung aus Kalifornien ist nicht eingetroffen. Wir haben nur noch einen einzigen ‚Bucky Beaver‘ auf Lager. Ich sehe schon, wie eine komplette Fußball-Frauenmannschaft den Laden stürmt und vor leeren Regalen steht.“ Armand stöhnte. „Das gibt einen Aufstand! Mit riesigen Gummipenissen werden sie auf mich eindreschen, bis ein knackiger, junger Polizist in strammer Uniform eintrifft …“ Er stockte. „Aber hallo! Vielleicht ist die Situation ja gar nicht so verfahren!“
„Keineswegs. Ruf trotzdem den Lieferanten an.“
„Könnte nicht deine Cousine ihre Beziehungen spielen lassen?“
„Cassie hält sich in Europa auf, glaube ich.“ Ganz sicher war Kate nicht, wo ihre berühmte Cousine diese Woche arbeitete. Auf die unerfreulichen Mitteilungen ihrer Mutter hin hatte Kate bei Cassies Agent eine Nachricht hinterlassen. Keine Reaktion. Es sah fast so aus, als würde sie sich verstecken. Ein Grund mehr, sich Sorgen zu machen. „Hat jemand für mich angerufen?“
„Nichts Wichtiges. Aber ich warne dich: Wenn Phillip Sayre noch mal anruft, mache ich ihn dir abspenstig.“
„Den kannst du haben. Ein Date reicht. Der Typ hat ein riesiges Ego.“
„Du weißt doch, großes Ego, gro…“
„…ße Füße? Kein Interesse! Wer braucht schon das Original und den dazugehörigen arroganten Kerl, wenn ein kleines, vibrierendes künstliches Etwas ohne Anhang den gleichen Zweck erfüllt?“
Armand schnalzte missbilligend mit der Zunge, aber er mimte nur den Entrüsteten. Er gehörte zu der Hand voll Vertrauter, der Kate auch ihre weniger netten Seiten zeigte.
„Ich muss Schluss machen. Sei brav!“
„Niemals!“ Armand schickte ihr einen lauten Schmatz durch den Hörer, und Kate legte grinsend auf.
Armand fehlte ihr. Er war der einzige Mann, dem sie völlig vertraute. Ein Psychologe würde das – wahrscheinlich zu Recht – mit Armands Homosexualität begründen. Vertrauen zu haben, besonders zu Männern, zählte nicht zu Kates Stärken. Noch etwas, das sie Mayor Winfield verdankte. Oder den wenigen Männern, mit denen sie etwas gehabt hatte und die sich ausnahmslos als herbe Enttäuschung entpuppt hatten.
Aber sie vermisste nicht nur den Freund und Partner, sie sehnte sich auch nach ihrem Apartment und nach dem Laden, dessen geschmackvolle Einrichtung einen krassen Gegensatz zu den Produkten bildete, die sie verkauften. MitBare Essentials, seinen zwei Etagen, den riesigen Schaufenstern und den exquisiten Vitrinen hatten sie das Unmögliche möglich gemacht: Sie hatten Sex genau die Eleganz und Klasse verliehen, um ihn auf der Michigan Avenue präsentieren zu können.
Eine Woche nach dem High-School-Abschluss war Kate mit ihrer Cousine in die Großstadt geflüchtet – Kate nach Chicago, Cassie in die Modeszene von New York. Kate kannte ihre Grenzen. Sie war klug, aber kein Genie, und leider besaß sie auch nicht genug Talent, um sich den Traum von einer Theaterkarriere zu erfüllen. Ihr Schlüssel zum Erfolg lag in ihrem gesunden Menschenverstand und ihrer Willenskraft. Deshalb hatte sie tagsüber als Verkäuferin gejobbt und abends die Schulbank gedrückt. Das Schicksal meinte es gut mit ihr. Kate lernte Armand kennen, einen brillanten Designer, der sich auf Dessous spezialisiert hatte.
Das geschah genau zu dem Zeitpunkt, als Cassies Karriere in Schwung kam und sie über die Mittel verfügte, um ihrer Cousin