1. Kapitel
Nicole Mohr sammelte die Notenhefte ein. Sie ordnete und stapelte sie akkurat, bis die anderen Frauen aus dem Chor endlich gegangen waren. »Hannes?« Sie legte die Hefte auf dem Flügel ab. »Ich muss dir was sagen.«
»Mach dir bloß keine Gedanken wegen deines Solos.« Hannes Schöttler schloss den Schrank mit den Notenständern. Er kam, nein, tänzelte beinahe auf sie zu. »Du wirst fantastisch sein, Nicole.«
»Das ist es nicht.« Sie roch die Lakritzpastillen, die er dauernd lutschte, und trat einen Schritt zurück. »Ich höre auf zu singen. Heute war das letzte Mal.«
»Was redest du da? Wir brauchen dich!«
»Tut mir leid, Hannes. Es war eine schöne Zeit im Chor. Aber es geht nicht mehr. Vielen Dank für alles.«
Er schüttelte langsam den Kopf. »Das meinst du nicht so, Nicole.«
»Doch. Es ist mein voller Ernst.«
»Wieso? Wo es doch gerade … wo ich … Also, ich bin einigermaßen sprachlos.« Seine Mundwinkel zogen sich nach unten. Er blinzelte und knetete die großen Hände.
Nicole hatte damit gerechnet, dass Hannes enttäuscht sein würde. Im Chor war es längst so eine Art Running Gag, dass er sie anbetete. Sie hatte ihm bestimmt nie irgendwelche Hoffnungen gemacht. Doch seit ihrer Trennung von Falk benahm er sich immer merkwürdiger. »Meine Stimme wird euch sicher nicht fehlen.« Sie versuchte ein aufmunterndes Lächeln, doch sie fühlte sich allmählich beklommen, so wie er sie ansah. Aber diese Umgebung passte nicht mehr zu ihr. Der Gemeindesaal mit dem verschrammten Fußboden, den schlaffen gelbbraunen Vorhängen. Die Einrichtung war so zweckmäßig, dass es schon wehtat. Sogar das Licht aus den Siebzigerjahrelampen sah milchig und schal aus. Es überzog alles wie mit einem klebrigen Film des ewig Gestrigen. Ein Ort für Verlierer.
»Wir haben in fünf Wochen unser Konzert, Nicole. Dafür proben wir. Ich meine, was denkst du dir? Muss es ausgerechnet jetzt sein?« Hannes’ Blick hinter den Brillengläsern war nun starr auf sie gerichtet.
»Brigitte singt das Solo doch viel besser als ich.«
»Nicki, wir brauchen dich! Überleg es dir noch einmal«, drängte er sie.
»Nein, Hannes. Mein Entschluss steht fest.« Sie griff nach Jacke und Tasche, die über einem der Stapelstühle aus hellem Eichenholz hingen.
»Du weißt nicht, was du da sagst!« In Hannes’ Mundwinkeln hatten sich Speichelblasen gebildet. »Du kommst wieder. Auf jeden Fall!« Er rang offensichtlich um Fassung. Und sie hatte gedacht, sie könnte hier einfach so hinausspazieren. Als wäre sie nicht ein Teil dieses Dorfes, der Gemeinde, dieses Chors. Das war ja, wie sich aus einem Sumpf zu befreien. Die Trennung von Falk, ihrem Mann, war nur der erste Schritt gewesen. Das erkannte Nicole jetzt. Sie wollte generell ein anderes Leben, ihren Anteil an Aufregung, Luxus und Spaß. Und das Gemeindehaus von Niensühn verkörperte alles, wovon sie sich losmachen musste.
Das Gesicht des Chorleiters wurde ausdruckslos. »Also gut, Nicole. Reisende soll man nicht aufhalten.«
»Tut mir wirklich leid.« Nicole schulterte ihre Umhängetasche und ging in Richtung Tür. Hannes, der hilfsbereite, stets freundliche und fügsame Ehemann der Pastorin, streckte den Arm aus, als w