: Jan Eik, Horst Bosetzky
: Am Tag, als Walter Ulbricht starb Roman
: Jaron Verlag
: 9783955522445
: 1
: CHF 6.60
:
: Historische Romane und Erzählungen
: German
: 288
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Das junge Ost-Berliner Pärchen Carola Weigang und Hartmut Battin fu?hlt sich in der hermetisch abgeriegelten DDR wie in einem Käfig. Als einzigen Ausweg sehen die beiden die Flucht mit einem Faltboot von der Insel Ru?gen u?ber die Ostsee. Über ein Jahr lang planen und trainieren sie fu?r das lebensgefährliche Unternehmen. Im Juli 1973, zu den Weltfestspielen der Jugend, wollen sie die nächtliche Überfahrt wagen, denn dann wird ein großer Teil der Sicherheitskräfte in der Hauptstadt der DDR seinen Dienst versehen. Doch die Stasi schöpft Verdacht, und ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt ... Politische Machenschaften und die finstere Arbeit der Geheimdienste, rätselhafte Todesfälle und gewagte Fluchtunternehmen: Die Reihe Ost-West-Krimis bietet ihren Lesern spannende Kriminalfälle, die sich in jener Zeit ereigneten, da Deutschland noch in zwei Teile zerrissen war. Mit Am Tag, als Walter Ulbricht starb hat das bewährte Autorengespann Horst Bosetzky und Jan Eik einen packenden Fluchtroman geschrieben, der seinen Höhepunkt genau an jenem Tag erreicht, als der DDR-Staatsratsvorsitzende verstirbt.

Horst Bosetzky, alias -ky, lebt in Berlin und gilt als 'Denkmal der deutschen Kriminalliteratur'. Er veröffentlichte im Jaron Verlag eine Vielzahl von dokumentarischen Spannungsromanen, Familienromanen, Krimis und biografischen Romanen. Als Mitbegründer der Kultreihe 'Es geschah in Berlin' schrieb er dafür nicht nur Kappes ersten Fall, 'Kappe und die verkohlte Leiche' (2007), sondern auch die Krimibände 'Der Lustmörder' (2008), 'Nach Verdun' (2008, zusammen mit Jan Eik), 'Bücherwahn' (2010), 'Mit Feuereifer' (2011), 'Unterm Fallbeil' (2012), 'Razzia' (2013), 'Auge um Auge' (2014) und 'Berliner Filz' (2016). Außerdem veröffentlichte er die Kriminalgeschichten 'Berliner Leichenschau' (2013, zusammen mit Gunther Geserick), die Doku-Krimis 'Wie ein Tier' (2013), 'Die Bestie vom Schlesischen Bahnhof' (2013), 'Der kalte Engel' (2013), 'Das Attentat auf die Berliner U-Bahn' (2015) und 'Der Teufel von Köpenick' (2015) sowie in der Reihe 'Es geschah in Preußen' die historischen Krimis 'Mamsellenmord in der Friedrichstadt' (2012), 'Aufruhr am Alexanderplatz' (2013) und 'Das Geheimnis vom Oranienburger Thor' (2014). Neben biografischen Romanen wie 'Kempinski erobert Berlin' (2010) oder 'Der König vom Feuerland' über August Borsig (2011) schrieb er auch seine Erinnerungen an 'West-Berlin' (2006) auf und gab 'Die schrägsten Berliner Zehn-Minuten-Geschichten' (2013) heraus. 2015 erschienen seine fantastischen Mittelalter-Geschichten in dem Band 'Otto mit dem Pfeil im Kopf', 2016 seine humorvollen Geschichten und Gedanken zum Berliner Nahverkehr, 'Mit Genuss in Taxe, Bahn und Bus'.

DREI
Juni 1972


EIGENTLICH STIMMTE bei dem, was Erkenbrecher über Carola gesagt hatte, nur das Erste, und auch das nur aus Hartmut Battins Sicht. Mit einer wirklich Linientreuen hätte er niemals etwas angefangen. Nicht mal aus Spaß. Mit Carola aber meinte er es bei allem Spaß, den sie miteinander hatten, durchaus ernst, und es wäre ihm lieber gewesen, sie hätte das auch so gesehen.

«Das siehst du falsch!», war überhaupt so ein blöder Satz, der einem oft genug an den Kopf geschmettert wurde, wenn man eine andere Meinung hatte als die offizielle, und die hatte Hartmut Battin meistens. «Bis du etwa nicht für den Frieden?», klang dagegen schon halb satirisch, hatte aber häufig auch diesen drohenden Unterton, den Hartmut hasste. Schon in der Schule hatten sie ihn ausreichend mit solchen hohlen Sprüchen belöffelt. Jedenfalls einige von den Paukern, und natürlich immer die miesesten. Ein richtig intelligenter Hundertfünfzigprozentiger war ihm selten begegnet. In der Schule nicht, und im Beruf schon gar nicht. Er arbeitete bei der Post.

«Die Reichsbahn und die Post, die saufen, wo’s nischt kost!» Das war der erste Spruch, den er von den alten Kollegen gelernt hatte, die schon unter Adolf die Strippen gezogen hatten, über und unter der Erde, und Kupfer und Kabel waren schon damals knapp gewesen. «Der Ain hat den Kabel erschlagen», wie polnische Kollegen es ausdrückten.

Hartmut arbeitete beim Fernmeldeamt. «Aber zu melden ham wa nüscht!», war der nächste Spruch. In der Rangfolge der Bedeutsamkeit kam die Post ganz hinten und dann noch um zwei Ecken. Selbst der Minister war nur in der CDU, ein abgehalfterter Drogist, den sie Seifen-Schulze nannten. Hartmut hatte ihn einmal reden hören und wusste seitdem, dass es auch zweihundertfünfzigprozentige Unintelligenzler gab, die nicht mal in der SED waren.

Mit seinen Kollegen verstand sich Hartmut Battin glänzend. Nur die machten die Arbeit im Amt überhaupt erträglich, und eine Kollegin ganz besonders. Sie hieß Carola Weigang und war sieben Jahre jünger als er. Nicht dass er besonders auf ganz Junge abgefahren wäre – nein, sie war mit ihren 24 Jahren eine Frau, die wusste, was sie wollte, und damit wohl genau die Richtige für ihn. Obwohl sie neben all ihren – nicht allein körperlichen – Vorzügen mindestens zwei kleine Fehler besaß: Sie kam aus Sachsen, wo bekanntlich die schönen (und vollbusigen) Mädchen auf den Bäumen wuchsen, und ihre Eltern konnten nichts anderes als Bonzen sein. Das bestritt sie zwar vehement – aber wie waren die wohl sonst aus ihrer Wohnhöhle in einem Nest nahe dem umgetauften Chemnitz zu einer Drei-Zimmer-Komfortwohnung in der Rue de Blamage gekommen, jener auch Halb-und-Halb genannten Ex-Stalinallee, wo die Kacheln von den Hauswänden fielen? Den Namen Karl Marx sprach Hartmut selten aus. Kallmastergrad nannte er Carolas Geburtsstadt, und zu seinen Lieblingswitzen gehörten die vom Parteihochschüler, der annahm, Karl May hätteDas Kapitalgeschrieben, und sich nach hundert Seiten Lektüre wunderte, dass immer noch kein Indianer vorgekommen sei, und noch überraschter erfuhr, dass es sich bei Marx-Engels angeblich um zwei verschiedene Personen gehandelt habe.

Carola spendierte für solche billigen Späße nur ein müdes Lächeln, hatte aber mit den westdeutschen Urkommunisten auch nicht viel am Hut. Zu Hause und in der Schule war einfach zu viel von den beiden die Rede gewesen.

Hartmut begründete ihren Überdruss dialektisch mit dem Marx’schen Gesetz der Negation der Negation: Übergroße Quantität schlägt leicht um in eine neue Qualität.

«Und mangelnde Quantität?», fragte Carola. Ihr Sächsisch klang nur noch ganz leicht an, anheimelnd geradezu. Vielleicht hatte er sich auch nur daran gewöhnt.

Aber damit waren sie wieder bei der Arbeit angelangt, von der sie in der Freizeit eigentlich nicht reden wollten.

Sie war die Sekretärin des Mannes, der für die Vergabe der Fernsprechanschlüsse in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik zuständig war, und wusste, wovon sie sprach. Telefonanschlüsse waren so knapp wie Räucheraal in den Fischläden. Dass es einen Fisch namens Lachs gab, war weitgehend unbekannt. In Carolas Heimatort Limbach-Oberfrohna gab es nicht mal Heringe. «Und dann kommt so ein Holzkopf wie mein Cousin aus dem Westen, schwärmt von Spanien und erzählt von Calamares und Thunfischsteak!», beklagte sie sich.

«Dein Cousin ging noch», wandte Hartmut ein. «Der andere Typ war noch ein paar Zähne schärfer!»

«Wenn sie den netten Alten nicht mitgebracht hätten, wär’s richtig furchtbar gewesen», gab Carola zu. «Am meisten hat mich geärgert, dass die Kerle mir nichts, dir nichts zur Olympiade nach München düsen können, während unsereins auf das Geschwätz von Herrn Oertel im Fernsehen angewiesen ist.»

Ermattet lagen sie auf der breiten Liege in Carolas Einzimmerwohnung, Hinterhaus, vierter Stock