DREI
Juni 1972
EIGENTLICH STIMMTE bei dem, was Erkenbrecher über Carola gesagt hatte, nur das Erste, und auch das nur aus Hartmut Battins Sicht. Mit einer wirklich Linientreuen hätte er niemals etwas angefangen. Nicht mal aus Spaß. Mit Carola aber meinte er es bei allem Spaß, den sie miteinander hatten, durchaus ernst, und es wäre ihm lieber gewesen, sie hätte das auch so gesehen.
«Das siehst du falsch!», war überhaupt so ein blöder Satz, der einem oft genug an den Kopf geschmettert wurde, wenn man eine andere Meinung hatte als die offizielle, und die hatte Hartmut Battin meistens. «Bis du etwa nicht für den Frieden?», klang dagegen schon halb satirisch, hatte aber häufig auch diesen drohenden Unterton, den Hartmut hasste. Schon in der Schule hatten sie ihn ausreichend mit solchen hohlen Sprüchen belöffelt. Jedenfalls einige von den Paukern, und natürlich immer die miesesten. Ein richtig intelligenter Hundertfünfzigprozentiger war ihm selten begegnet. In der Schule nicht, und im Beruf schon gar nicht. Er arbeitete bei der Post.
«Die Reichsbahn und die Post, die saufen, wo’s nischt kost!» Das war der erste Spruch, den er von den alten Kollegen gelernt hatte, die schon unter Adolf die Strippen gezogen hatten, über und unter der Erde, und Kupfer und Kabel waren schon damals knapp gewesen. «Der Ain hat den Kabel erschlagen», wie polnische Kollegen es ausdrückten.
Hartmut arbeitete beim Fernmeldeamt. «Aber zu melden ham wa nüscht!», war der nächste Spruch. In der Rangfolge der Bedeutsamkeit kam die Post ganz hinten und dann noch um zwei Ecken. Selbst der Minister war nur in der CDU, ein abgehalfterter Drogist, den sie Seifen-Schulze nannten. Hartmut hatte ihn einmal reden hören und wusste seitdem, dass es auch zweihundertfünfzigprozentige Unintelligenzler gab, die nicht mal in der SED waren.
Mit seinen Kollegen verstand sich Hartmut Battin glänzend. Nur die machten die Arbeit im Amt überhaupt erträglich, und eine Kollegin ganz besonders. Sie hieß Carola Weigang und war sieben Jahre jünger als er. Nicht dass er besonders auf ganz Junge abgefahren wäre – nein, sie war mit ihren 24 Jahren eine Frau, die wusste, was sie wollte, und damit wohl genau die Richtige für ihn. Obwohl sie neben all ihren – nicht allein körperlichen – Vorzügen mindestens zwei kleine Fehler besaß: Sie kam aus Sachsen, wo bekanntlich die schönen (und vollbusigen) Mädchen auf den Bäumen wuchsen, und ihre Eltern konnten nichts anderes als Bonzen sein. Das bestritt sie zwar vehement – aber wie waren die wohl sonst aus ihrer Wohnhöhle in einem Nest nahe dem umgetauften Chemnitz zu einer Drei-Zimmer-Komfortwohnung in der Rue de Blamage gekommen, jener auch Halb-und-Halb genannten Ex-Stalinallee, wo die Kacheln von den Hauswänden fielen? Den Namen Karl Marx sprach Hartmut selten aus. Kallmastergrad nannte er Carolas Geburtsstadt, und zu seinen Lieblingswitzen gehörten die vom Parteihochschüler, der annahm, Karl May hätteDas Kapitalgeschrieben, und sich nach hundert Seiten Lektüre wunderte, dass immer noch kein Indianer vorgekommen sei, und noch überraschter erfuhr, dass es sich bei Marx-Engels angeblich um zwei verschiedene Personen gehandelt habe.
Carola spendierte für solche billigen Späße nur ein müdes Lächeln, hatte aber mit den westdeutschen Urkommunisten auch nicht viel am Hut. Zu Hause und in der Schule war einfach zu viel von den beiden die Rede gewesen.
Hartmut begründete ihren Überdruss dialektisch mit dem Marx’schen Gesetz der Negation der Negation: Übergroße Quantität schlägt leicht um in eine neue Qualität.
«Und mangelnde Quantität?», fragte Carola. Ihr Sächsisch klang nur noch ganz leicht an, anheimelnd geradezu. Vielleicht hatte er sich auch nur daran gewöhnt.
Aber damit waren sie wieder bei der Arbeit angelangt, von der sie in der Freizeit eigentlich nicht reden wollten.
Sie war die Sekretärin des Mannes, der für die Vergabe der Fernsprechanschlüsse in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik zuständig war, und wusste, wovon sie sprach. Telefonanschlüsse waren so knapp wie Räucheraal in den Fischläden. Dass es einen Fisch namens Lachs gab, war weitgehend unbekannt. In Carolas Heimatort Limbach-Oberfrohna gab es nicht mal Heringe. «Und dann kommt so ein Holzkopf wie mein Cousin aus dem Westen, schwärmt von Spanien und erzählt von Calamares und Thunfischsteak!», beklagte sie sich.
«Dein Cousin ging noch», wandte Hartmut ein. «Der andere Typ war noch ein paar Zähne schärfer!»
«Wenn sie den netten Alten nicht mitgebracht hätten, wär’s richtig furchtbar gewesen», gab Carola zu. «Am meisten hat mich geärgert, dass die Kerle mir nichts, dir nichts zur Olympiade nach München düsen können, während unsereins auf das Geschwätz von Herrn Oertel im Fernsehen angewiesen ist.»
Ermattet lagen sie auf der breiten Liege in Carolas Einzimmerwohnung, Hinterhaus, vierter Stock