Das Ende naht … nur nicht so, wie wir dachten
Es gibt einen köstlichen alten sowjetischen Witz über Radio Eriwan: Ein Hörer fragt: »Stimmt es, dass Rabinowitsch ein neues Auto im Lotto gewonnen hat?« Der Sprecher antwortet: »Im Prinzip ja, aber es war kein neues Auto, sondern ein altes Fahrrad, und er hat es nicht gewonnen, sondern es wurde ihm gestohlen.« Gilt nicht genau das Gleiche für dasKommunistische Manifest? Fragen wir Radio Eriwan: »Ist dieser Text noch aktuell?« Die Antwort können wir erraten: Im Prinzip ja, er beschreibt wunderbar den verrückten Tanz kapitalistischer Dynamik, die ihren Höhepunkt gerade jetzt erst erreicht, mehr als eineinhalb Jahrhunderte später, aber …
Gerald A. Cohen hat die vier Merkmale des klassisch marxistischen Begriffs der Arbeiterklasse so gefasst:1. Sie bildet die Mehrheit der Gesellschaft;2. sie produziert den Wohlstand der Gesellschaft;3. sie besteht aus den ausgebeuteten Mitgliedern der Gesellschaft;4. ihre Mitglieder sind die bedürftigen Menschen der Gesellschaft.[1] Wenn man diese vier Merkmale kombiniert, ergeben sich daraus zwei weitere:5. Die Arbeiterklasse hat in der Revolution nichts zu verlieren;6. sie kann und wird sich für die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft einsetzen. Keines dieser ersten vier Merkmale trifft heute auf die Arbeiterklasse zu, weshalb die Merkmale5 und6 sich nicht ergeben können. (Selbst wenn einige Merkmale noch auf Teile der heutigen Gesellschaft zutreffen, treten sie sie nicht mehr bei einem sozialen Akteur gemeinsam auf: Die bedürftigen Menschen in der Gesellschaft sind nicht mehr die Arbeiter etc.).
So zutreffend diese Aufzählung sein mag, sie sollte durch eine systematische theoretische Herleitung ergänzt werden: Für Marx folgen die Merkmale alle aus der grundlegenden Position eines Arbeiters, der nichts als seine Arbeitskraft zu verkaufen hat. Als solche sind Arbeiter qua Definition ausgebeutet; mit der fortschreitenden Expansion des Kapitalismus bilden sie die Mehrheit, die auch den Wohlstand produziert usw. Wie können wir dann eine revolutionäre Perspektive unter heutigen Bedingungen neu definieren? Ist der Ausweg aus dieser Zwangslage die Kombinatorik verschiedener Antagonismen, ihre potentielle Überlappung? Aber – um es in Laclaus Begriffen zu formulieren – wie kann man eine Äquivalenzkette bilden, die von klassischen Proletariern, dem Prekariat, Arbeitslosen, Flüchtlingen bis zu sexuellen Minderheiten und unterdrückten ethnischen Gruppen etc. reicht?
Ein guter Ausgangspunkt besteht darin, dem alten marxistischen Weg zu folgen und den Fokus von der Politik auf die Anzeichen von Postkapitalismus zu richten, die innerhalb des globalen Kapitalismus selbst erkennbar werden – und wir müssen uns nicht groß umschauen, öffentliche Figuren, die ein perfektes Beispiel für die Privatisierung unserer Gemeingüter darstellen, sollten uns eine Warnung sein: Elon Musk, Bill Gates, Jeff Bezos, Mark Zuckerberg, allesamt »gesellschaftlich bewusste« Milliardäre. Sie stehen für das globale Kapital in seiner verführerischsten und »progressivsten«, kurz, seiner gefährlichsten Variante. (In einer Rede vor Harvard-Absolventen im Mai2017 sagte Zuckerberg seinem Publikum: »Unser Job ist es, einen Sinn für Zweckhaftigkeit zu schaffen!« – und das von einem Mann, der mit Facebook eines der weltweit größten Instrumente zur zweckfreien Zeitvernichtung geschaffen hat.) Sie alle, von Zuckerberg bis Gates und Musk, warnen davor, dass der »Kapitalismus, wie wir ihn kennen«