Kapitel 1
Bretter, die die Welt bedeuten
Die lärmende Schülermeute bildete einen nahezu unerträglichen Kontrast zu den letzten Sonnenstrahlen, die der Herbst zu bieten hatte. Vier Jahre lang hatte ich versucht, mich an den Klang zu gewöhnen. Vergeblich. Ich war nur besser darin geworden, ihn zu ignorieren. So wie ich alles ignorierte, was meinen Seelenfrieden gefährdete. Ja, selektive Scheuklappen waren amTorquasso Lyceum ein unverzichtbares Accessoire.
Ich rupfte ein paar unschuldige Grashalme aus der Wiese. Die armen Dinger konnten nichts dafür, dass mein Leben die unspektakuläre kleine Schwester einer miesen Seifenoper war. Sie hatten lediglich Pech und wuchsen dort, wohin ich mich verkroch, wenn mein Frust mal wieder überhandnahm. Zwei Tage war das neue Schuljahr alt und fünfmal hatte ich der mächtigen Kastanie hinter der Mensa schon einen Besuch abgestattet. Traurigerweise nicht mein Rekord.
Das Motto hieß durchhalten. Durchhalten, gute Noten schreiben und ein Stipendium ergattern, damit ich von hier wegkonnte. Am besten an irgendeinen Ort, der nicht vor Banalität zu implodieren drohte.
Zwei kalte Hände rissen mich aus meinen Fluchtgedanken.
»Na, bereit für ein wenig ›sein oder nicht sein‹?«
Meine beste Freundin Felizitas – Lizzy – hatte ein Faible für große Auftritte. Als sie sich voller Elan neben mir auf die Wiese plumpsen ließ, kalibrierte ich meine Scheuklappen neu. Lizzy strahlte einfach zu viel gute Laune aus. Mehr als es selbst das schöne Wetter gerechtfertigt hätte.
»Du weißt, dass du mir dafür mindestens lebenslang Pannendienst schuldest!?«, grollte ich.
Sie zuckte nur mit den Schultern und schlürfte lautstark die Reste ihres Bananen-Kiwi-Smoothies durch den Strohhalm.
»Felizitas’ unübertroffener Rundum-zufrieden-Pannen-und-Abschleppservice steht dir zur freien Verfügung«, meinte sie großzügig. »Obwohl ich dich immer noch nicht verstehe! Wenn man schon eine Schrottkarre fährt, dann doch wohl, um sich von heißen, ölverschmierten Jungs in eng anliegenden Muskelshirts abschleppen zu lassen.«
Ich seufzte. Lizzy war hoffnungslos testosteronfixiert. Und das war noch die netteste Umschreibung, die mir zum neuen Lebenskonzept meiner besten Freundin einfiel. Innerhalb eines Schuljahres war sie von einer bezahnspangten Raupe zu einem schrillen Schmetterling mutiert. Einem Schmetterling mit Modetick und rot gefärbtem Lockenkopf. ›Straßenköterblond‹ wäre für ihr letztes Schuljahr schlichtweg zu wenig ›glamourös‹, wobei sie geflissentlich überging, dass sie damit auch meine Haarfarbe beleidigte.
Entgegen meiner Erwartungen und jeglicher Vernunft wirkte die neue Signalfarbe auf Lizzys Kopf tatsächlich wie ein Leuchtfeuer. Seit letztem Sommer standen die Verehrer Schlange, um ihren endlosen Beinen zu huldigen. Zeitgleich und nicht unbedingt ganz nüchtern hatte Lizzy geschworen, jeden Zentimeter davon dem ›Gott des Spaßes‹ zu weihen. Aktuell hieß dieser Gott Jeremy. Er war der Star derDramatic Association, der Theatergruppe unserer Schule.
»Und du bist dir sicher, dass er die Mühe wert ist, ellenlange, öde Texte zu lernen und unsere Dienstagnachmittage in einem modrigen Kellergewölbe zu verbringen?«, erkundigte ich mich.