: Gabriele Wohmann
: Ein unwiderstehlicher Mann
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783688106561
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 142
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Gabriele Wohmann erzählt böse und schöne Idyllen des bürgerlichen Lebens, von Allerweltsmenschen in alltäglichen Situationen und von Frauen Ende Dreißig, die von der Gier nach Neuem erfüllt sind.

Gabriele Wohmann, geboren am 21. Mai 1932 in Darmstadt als Tochter eines Pfarrers, studierte Philologie und arbeitete als Lehrerin in einem Internat. Sie veröffentlichte zunächst unter ihrem Mädchennamen Gabriele Guyot den Erzählungsband «Mit einem Messer» (1958). Es folgten Gedichtbände, zahlreiche Romane und Erzählungen, Hör- und Fernsehspiele. Gabriele Wohmann erhielt mehrere Preise und Stipendien. Sie starb am 22. Juni 2015 in Darmstadt.

Ein unwiderstehlicher Mann


Das Ganze liegt jetzt schon ein Jahr zurück, und es ist eigentlich traurig, daß ich mit Weihnachten nichts besseres anzufangen weiß als eine Geschichte zu Papier zu bringen, die ausgesprochen unweihnachtlich ist. Das Weihnachtsfest einer alten Jungfer, die es verschmäht, eine fortschreitende Ergrauung ihrer Haare in Zusammenarbeit mit einem tüchtigen Friseur zu bekämpfen, kann aber vielleicht nicht sinnvoller begangen werden als mit der intensiven Versenkung in eine Vergangenheit, die ihr die Erbärmlichkeit ihres Jungfernstandes recht grausam vor Augen führte.

Ich erinnere mich allzu genau an jenen Weihnachtsabend vor einem Jahr, an Allans nervösen rechten Fuß, der unaufhörlich auf und ab wippte, an Brendas versteinertes Gesicht und an den fatalistischen Ausdruck auf den blassen Zügen der kleinen Wilden, an ihre langen, ineinanderverkrampften Finger mit den dunkelrot gefärbten Nägeln. Und zwischen diesen dreien saß ich und ich weiß noch sehr gut, daß ein unbehagliches Gefühl, das mir meine bloße Anwesenheit in dieser Gesellschaft verursachte, mit einem starken Druck auf den Magen koordiniert war, und daß ich, neben allen anderen Empfindungen, den dringenden Wunsch verspürte, den Reißverschluß meines engen Tweedrockes zu öffnen. Ich tat es schließlich und ich verbarg die schändliche Stelle, die eines der Symptome meines Alterns verriet, mit einem Zipfel meiner schwarzen Stola.

Aber ich muß von vorne anfangen, um die Kontinuität begreiflich zu machen, die diesen verhängnisvollen Abend endlich hervorbrachte. Es begann mit einer Einladung Brendas in ihr kalifornisches Heim, wo ich die Sommerferien verbringen sollte. Ich war damals noch amerikanischer Neuling, ich fühlte mich fremd und isoliert in der kleinen Stadt im mittleren Westen, ich kam mir vor wie ein winziges Pünktchen in einer riesigen, endlosen Unbegreiflichkeit: Amerika. Meine Kollegen vom College behandelten mich mit einer gewissen Distanz, wenn auch nicht ohne jene naive, verständnislose Herzlichkeit, mit der man mir hier überall begegnete. Ich war damals erschöpft und ein wenig enerviert von allem: von der schlechten Aussprache meiner Schüler, von der munteren Fortschrittlichkeit meines Chefs, von den neubarocken Möbeln in meiner winzigen Wohnung und von der amerikanischen Küche. Und hauptsächlich litt ich unter Einsamkeit. Um so angenehmer berührte mich die Einladung Brendas, und wenn ich auch nicht ohne Skepsis gegenüber dem fuhr, was mich erwarten würde, so wußte ich doch mit einem Gefühl der Erleichterung, daß meine Reise mir wenigstens Veränderung und damit eine Unterbrechung meiner Einsamkeit bringen würde.

In der Tat lebte es sich vorzüglich bei den Dennets. Mir zuliebe kochte man französisch, man führte mich überallhin, wo es etwas anzustaunen und zu bewundern gab, man zeigte mir die größten und ältesten Bäume der Welt, den fruchtbarsten Boden, die dicksten Seehunde, das tiefste Tal und den höchst