I
Mein Bruder stand da, er bewegte seine kalten Füße nicht. Mein Vater trug einen Pullover unter dem Rock. Diesmal war ich es, die wegfuhr, Ruthie, die Bahnhofsstimmung der beiden da unten galt diesmal nicht dir.
Am Gleis gegenüber zog ein Mann mit Overall und Schildmütze Schrauben an. Sein Gehilfe stand bloß so da, das Arbeitsgerät in der Hand. Er schaute herüber. Willst du denn rückwärts fahren, fragte mein Vater.
Meine Mutter hatte mich beim Packen mit einem Sommerkleid ertappt. So lang bleibst du weg, fragte sie. Wieder betrachtete sie mich, als habe ein rätselhafter Zufall sie in diese Familie verschlagen. Dann haben wir nur noch den Manfred, sagte Tante Leonie. Du hast dir einen leichteren Abgang verschafft, Ruthie-Schwester. Tante Gusta hat meine Hand nicht loslassen wollen, wie sechs Monate später beim Abschied in der Anstalt. Ich wußte noch nichts von der Anstalt, ihrem Garten, ihren Besuchszeiten, vom besonders heißen Sommer dieses Jahres, vom Fehlen der Bäume und ihrer Schatten auf den geometrisch streng verlaufenden Kieswegen der Anstalt, und riß meine Hand aus ihrer.
Der beschäftigte Gleisarbeiter richtete sich auf und sagte etwas zu dem andern Arbeiter; jetzt sahen sie beide zu uns herüber. In diesem Augenblick grüßte mein leicht gekrümmt stehender Bruder Manfred eine Gruppe von kleinen Burschen, die seit der letzten gescheiterten Versetzung seine Klassenkameraden waren. Manfreds Hals, wieder ohne Schal, war etwas eingezogen, als rechne er mit einem Steinwurf. Was suchen denn die auf dem Bahnhof, fragte ich ihn. Er machte den Mund auf, aber er mußte anscheinend nicht gähnen. Meine Mutter war mit den Betten fertig, erst jetzt zeigte der Ischiasanfall seine wahre Stärke. Tante Gusta wollte Tante Leonie den Mop entreißen.
Viele Grüße an die Kampffische, sagte ich und wußte noch nichts von Zimmer neun im Hotel Wachtturm und von den Sätzen zwischen Strass und mir über die Kampffische meines Bruders. Darauf freute ich mich, auf etwas in dieser Art. Manfred hatte bei geringem Fieber ausgedehnte Dämmerstunden im Bett vor sich, wie er sie schätzt, wie die Eltern sie schätzen wegen der dadurch ruhigeren Vormittage, die sie aber auch fürchten, denn sie ziehen schlechte Leistungen in der Schule nach sich. Neue Bittschriften gegen neue Repetitionen; durch Sensibilität und Anfälligkeit meines Sohnes Manfred leider.
Ich merkte erst jetzt, daß die Arbeiter das Gleis verlassen hatten. Meinem Vater weiter einzureden, ich bliebe nur kurz fort, mochte ich jetzt nicht mehr. Die Mitschüler Manfreds, zusammengerottet und auffällig schweigsam, schlenderten an uns vorüber, machten kehrt, und diesmal suchten sie ihren Weg zwischen dem Waggon und den beiden Wartenden.
Also wie ist’s, willst du nicht wieder aussteigen? Mein Vater rief das noch, als der Zug schon wegglitt. Ich spielte verschrecktes Theater, so als wolle ich wirklich aussteigen, ich winkte. Mein Vater ließ ein riesiges weißes Taschentuch vom unbewegten hochgestreckten Arm herabwehen. Manfred rührte keine Hand, wie bei jedem Abschied. Mein bald rudernder, bald segelnder Arm, den ich ihnen immer noch zeigte, ein Köder, der für sie unerreichbar war, mein Lächeln, mein Abschied von der Familie galten zuletzt, hinter Ablaufberg, Entschlackungsgrube und Kohlenbansen, nur noch den beiden Arbeitern und ihren groben freundlichen Zurufen; im selben Augenblick waren Vater und Manfred nicht mehr zu sehen.
Ich setzte mich auf meinen Fensterplatz und merkte, daß ich im Abteil nicht mehr allein war. Eine große alte Frau betrachtete mich mit ruhiger Neugier.
Die Mitschüler gaben es schon dem Omnibusbahnhof gegenüber auf, dieses komische Paar zu verfolgen, meinen kleinen Vater mit den kleinen Schritten neben dem nur widerspenstig sich vorwärtsbewegenden, um zwei Köpfe höheren Manfred. Sie gingen zu Fuß nach Haus. Sie fühlten sich etwas verloren, aber auch ruhiger, nun, da die Trennung vollzogen war. Es ändert wenig, ob ich weg bin oder bei ihnen. Manfred habe ich nie zur Rebellion überreden können. Meiner Mutter vermochte ich die Freude an Durchzug, Süßigkeiten, Naturhaarbesen, fettem Fleisch und Wettspielen nicht auszureden. Ich half Tante Gusta nicht mit Anweisungen zum Lesen, Stopfen, Sticken, Bügeln über das erste Stadium ihres Wahnsinns weg. Nichts lieferte ich als Beitrag zu Tante Leonies Monol