1. Kapitel
Charlie
22. Mai 2016
»Du hast vor gerade einmal drei Stunden den Abschluss gemacht!«, rief mein älterer Bruder zu allem Überfluss, in diesem autoritären Tonfall, den er oft benutzte. »Lass uns doch erst einmal sehen, dass du wieder zu Hause einziehst und dich eine Weile dort einlebst. Wenn du dann so weit bist, kannst du dich immer noch nach etwas Eigenem umsehen. Ich begreife nicht, warum du das alles übers Knie brechen willst.«
Und ich verstand nicht, warum er die Tragweite all dessen, was ich zu erledigen hatte, einfach abtat. »Weil ich in einem Monat einen Termin bei Gericht habe, Jagger, und bis dahin alles geschafft haben muss. Wasich nicht begreife, ist, warum du versuchst, alles hinauszuzögern.«
»In einemMonat? Charlie!«
»Jag«, setzte seine Frau an, verstummte aber, als Jagger ihr einen Blick zuwarf.
»Sie lässt sich kaum Zeit, Grey«, meinte er bestimmt und starrte mich wütend an. »Und wann hattest du vor, uns zu erzählen, dass du einen Gerichtstermin vereinbart hast?«
»Du hättest dir denken können, dass ich ihn so früh wie möglich ansetzen würde.«
»Es wäre schon schön gewesen, überhaupt davon zu erfahren, dass du einen Termin hast.«
»Du wusstest doch, dass es darauf hinauslaufen würde«, rief ich und lachte frustriert auf. »Das kann jetzt nicht so schockierend sein, wie du es darstellst.«
Er gab beim Ausatmen einen scharfen Laut von sich. »Ist es auch nicht, natürlich war uns das klar. Ich wünsche mir das für dich, aber du hättest bedenken müssen, dass du Zeit brauchst, um alles herzurichten, wenn du wieder zu Hause bist. Ein Monat reicht dafür nicht, Charlie. Das hätte ich dir schon vor heute sagen können, dann hättest du jetzt nicht diesen Zeitdruck. Wir müssen den Termin nach hinten verschieben.«
»Nein«, erwiderte ich entschieden. »Die Zeit wäre zu knapp, wenn ich mich erst wieder in Thatch einleben müsste. Doch ich muss mich nicht in Thatch einleben, ich war nur neun Monate weg. Ich habe den Abschluss gemacht, das war eine der Bedingungen, und sobald ich kann, suche ich mir einen Job und ziehe aus.«
Stöhnend rieb sich Jagger übers Gesicht. »Ist dir klar, wie viel einfacher alles für dich wäre, wenn du und Keith einfach bei uns bleiben würdet?«
»Weil das auch so richtig gut aussehen würde. Alleinerziehende Mutter haust mit ihrem kleinen Sohn lieber im Hinterzimmer des Lagerhauses ihres Bruders, weil daseinfacher ist.« Ich schnaubte verächtlich. »Was würde der Richter wohl davon halten, Jag?«
Jagger schwieg, weil er es genau wusste.
Ich senkte die Stimme, damit man mich im Wohnzimmer meines kleinen Apartments außerhalb des College-Campus nicht hören konnte, wo mein Sohn gerade mit Greys Eltern und meiner Nichte spielte. »Sobald Keith angefangen hat zu re