Normalerweise kann man vom großen Fenster unserer Dachwohnung aus, oben im Fünften, prima über Kreuzberg gucken. Es gibt noch mehr Fenster in andere Richtungen, sogar eins oberhalb der Wendeltreppe zum Dachgarten. Aber das Kreuzberg-Fenster mit seinem Ausblick über tausend Dächer ist das tollste.
Heiligabend, dachte ich,heute ist Heiligabend!
Geschenke, Geschenke, Geschenke!
Ich stand schon eine ganze Weile hier, aber von den Kreuzberger Dächern war so gut wie nichts zu sehen. Es war bereits nach zehn Uhr, da sollte es draußen längst richtig hell sein, aber es fiel nur Winterdämmerlicht ins kuschelig warme Wohnzimmer.
Das lag am Schnee. Es schneite pausenlos seit fast einer Woche, Tag und Nacht. In den Straßen türmte sich der Schnee, und die Luft über Berlin war so weiß, als würden tausend Engel Milch über der Welt ausschütten. Oder als wäre der ganze Himmel eine einzige riesige Bingotrommel mit Milliarden weißen Kugeln drin. Oder als wäre das Bettenlager von Frau Holle im Märchenland explodiert. Oder als wäre … Jedenfalls konnte ich kaum den Blick abwenden. Das weiße Wirbeln hinter dem Glas war wie eine mächtige Hypnose.
HYPNOSE: Wenn etwas oder jemand anderes dir seinen Willen aufzwingt. Du musst dann tun, was von dir verlangt wird, und kannst dich nicht wehren. Zum Beispiel guckst du einen Schokoriegel an und er zwingt dich, ihn sofort zu essen. Vom Schokoriegel ist das natürlich dumm. Denn erstens hat er nach dem Essen keine Macht mehr über dich, und zweitens hättest du ihn ja auch freiwillig verputzt.
Dass ich wieder zu mir kam, lag bestimmt am Hunger. Zwischen dem Frühstück und dem Mittagessen rückt Mama höchstens einen Joghurt mit Natur drin für mich raus. Oder irgendein Müsli, in dem sogar für das reingeschnibbelte Obst noch mal extra Gemüse drin ist, damit das auch was Gesundes kriegt. Ich muss leider sagen, dass die Ernährungssituation zu Hause besser war, als Mama noch im Nachtclub gearbeitet hat. Plus, als sie noch nicht schwanger war. Neulich, als ich um ein winziges Stückchen Schokolade betteln musste, sagte sie, es würden sowieso schon viel zu viele dicke Kinder durch die Gegend rennen oder rollen, da müsste ja nicht ihr einziger Sohn dazugehören, der dann wegen seiner Tiefbegabung vom Gehsteig runter direkt vor einen Lieferwagen kullern könnte – mit überhöhter Verkehrsgeschwindigkeit von entweder dem Laster oder dem Sohn –, und dann tschüssikowski!
Ich warf mich vor ihr auf den Boden und tat so, als hätte ich einen Zuckermangelschock. So was gibt es, man kann sich dann nicht mehr bewegen, weil der Körper ganz plötzlich keine Energie mehr hat, und denken kann man auch kaum noch, außer an Schokolade und andere Sachen mit Zucker drin. Mama ließ mich eine Viertelstunde lang im Weg rumliegen. Dann wurde sie doch noch erbärmlich und päppelte mich endlich auf, bevor auch noch meine Atmung versagen konnte.
Das alles fürein Stückchen Schokolade!
Ich guckte auf die Uhr. Für halb elf waren Oskar und ich zum Einkaufen verabredet, da war nicht mehr viel Zeit. Wir wollten zum Karstadt am Hermannplatz laufen und bei der Gelegenheit auch gleich Frau Dahling an der Wursttheke besuchen. Das mit dem Essen, überlegte ich, konnte ich bis dahin verschieben. Frau Dahling rückt immer eine kl