1. KAPITEL
Früher hatte Helena Weihnachten geliebt, aber jetzt hatte sie Angst davor. Und zwar schon jetzt, obwohl es gerade erst Herbst geworden war. Und an Tagen wie heute, an denen in ihrem „Erzgebirgschen Weihnachtslädchen“ nicht so viel Betrieb war, hatte sie viel Zeit, an den schlimmsten Tag ihres Lebens zu denken. Der Tag, der all ihre Träume hatte platzen lassen wie eine Seifenblase. Ihr Ladenlokal lag in einer schmalen Gasse in einem kleinen Städtchen nahe Annaberg, einer der bekanntesten Städte im Erzgebirge. Es befand sich nicht weit vom Kirchplatz entfernt und lockte besonders in der Vorweihnachtszeit Touristen aus aller Welt an. Weit über Deutschland hinaus war das Erzgebirge als das Weihnachtsland bekannt. Helena musste einen Moment schmunzeln, als sie an das Paar aus China dachte, das aufgeregt in die Hände geklatscht hatte, als sie ihnen zeigte, wie eine Weihnachtspyramide funktionierte. Sie hatte die Teelichter unter dem spitz zulaufenden Holztürmchen, das mit Engeln, Nussknackern und einer Krippe bestückt war, angezündet, und schon bald begann sich der Propeller aus Holz an der Spitze zu drehen.
Wenn doch alles im Leben so einfach funktionieren würde, dachte Helena und strich sich eine ihrer widerspenstigen blonden Locken aus dem Gesicht. Wie hatte sie es immer genossen, wenn Tom ihr durch die Locken gefahren war und sie „mein wildes Mädchen“ genannt hatte. So wie auch an jenem Tag, als sie von einem Ausflug mit ihrer Kindergruppe zurückkam. Zwanzig Kinder und fünf Schlitten hinter sich, die Locken quollen unter der Mütze hervor, und sie war noch nicht müde gewesen. An diesem Tag hatte er ihr den Heiratsantrag gemacht und ihr gesagt, dass er sich mindestens fünf Kinder mit ihr wünsche.
Und jetzt saß sie allein hier in dem Laden ihrer Eltern, die sie zusammen mit ihrem Verlobten durch einen schrecklichen Verkehrsunfall auf der eisglatten Straße verloren hatte. Für ihre Eltern war der Laden ihr größter Stolz gewesen, also hatte Helena schweren Herzens ihre Arbeit im Kindergarten gekündigt, um den Laden weiterzuführen. Sie machte es gerne, aber sie vermisste den Trubel im Kindergarten und die Natur, in der sie sich mit ihren Schützlingen so gerne aufgehalten hatte.
Die Türglocke riss Helena aus ihren Gedanken. Ihre beste Freundin Julia kam herein und umarmte sie freudig.
„Helena, wie schön dich zu sehen! Setzt du schon mal heißes Wasser für einen Kaffee auf? Ich habe uns was zum Frühstücken mitgebracht.“
Helena sah auf die Croissants, die Julia aus einer Papiertüte holte, und wunderte sich selbst, dass ihr auf einmal das Wasser im Mund zusammenlief.
„Woher wusstest du, dass ich noch gar nichts gefrühstückt habe?“, rief Helena so laut, dass Julia sie auch noch von der kleinen Teeküche, die sich in einem Nebenzimmer befand, hören konnte. Sie setzte heißes Wasser auf und holte zwei Teller und zwei Tassen aus dem Schränkchen über der Spüle.
„Weil du seit Ewigkeiten nur noch isst, wenn man dich daran erinnert! Wenn du so weitermachst, verhungerst du noch. Das kann ich nicht zulassen, du würdest mir fehlen“, sagte Julia auf eine mütterliche Art, die sie sich angewöhnt hatte, seit Helena ihre Eltern verloren hatte. Und es stimmte, Helena war so dünn geworden, dass all ihre Jeans ihr um die Beine schlackerten. Der Kummer hatte ihr den Appetit genommen, während Julia ordentlich Hüftspeck angelegt hatte, seit sie ein Kind hatte und mit einem Mann verheiratet war, der gerne und gut kochte. Die beiden Freundinnen waren in dem Örtchen zusammen aufgewachsen, und Julia war der Mensch, der Helena die Kraft gab, ihren Job überhaupt durchzustehen, nachdem sie ihr altes Leben ha