Tony Judt
DEM ALLEN LEBEWOHL?
KolakowskisHauptströmungen des Marxismusheute gelesen
I
Leszek Kolakowski ist ein Philosoph aus Polen. Doch diese Charakterisierung scheint nicht ganz treffend – oder hinreichend. Wie bei Czeslaw Milosz und anderen vor ihm war Kolakowskis intellektueller und politischer Werdegang durch seine Opposition zu bestimmten, tief verwurzelten Zügen der traditionellen polnischen Kultur geprägt: Klerikalismus, Chauvinismus, Antisemitismus. 1968 zur Ausreise gezwungen, konnte Kolakowski weder in seine Heimat zurückkehren noch dort seine Werke publizieren: Zwischen 1968 und 1981 stand sein Name auf dem polnischen Index verbotener Autoren, und ein Großteil der Arbeiten, für die er heute am besten bekannt ist, schrieb und veröffentlichte er im Ausland.
Das Exil verbrachte Kolakowski überwiegend in England, wo er seit 1970 Fellow am All Souls College in Oxford ist. Aber Großbritannien ist, wie er in einem Gespräch sagte, eine Insel, und Oxford ist eine Insel in England, und All Souls (ein College ohne Studenten) ist eine Insel in Oxford, und Dr. Leszek Kolakowski ist eine Insel in All Souls, eine »vierfache Insel«.1Tatsächlich bot das britische Kulturleben intellektuellen Emigranten aus Russland und Mitteleuropa einst einen Platz – man denke nur an Ludwig Wittgenstein, Arthur Koestler oder Isaiah Berlin. Doch ein ehemals marxistischer katholischer Philosoph aus Polen ist noch exotischer, und trotz seines internationalen Ansehens ist er in seinem Adoptivland kaum bekannt, und wenn, dann erstaunlich unterschätzt.
Anderswo ist Kolakowski indes berühmt. Wie viele mitteleuropäische Gelehrte seiner Generation ist er mehrsprachig – fühlt sich im Russischen, Französischen und Deutschen ebenso zu Hause wie im Polnischen und Englischen – und wurde besonders in Italien, Deutschland und Frankreich mit Ehrungen und Preisen überhäuft. In den Vereinigten Staaten, wo Kolakowski viele Jahre am Committee on Social Thought der Universität von Chicago lehrte, wurden seinen Leistungen großzügige Würdigungen zuteil, deren Höhepunkt 2003 die Verleihung des ersten John W. Kluge-Preises der Library of Congress war – ein Preis, der für ein Lebenswerk in jenen Wissenschaften (besonders den Geisteswissenschaften) verliehen wird, für die es keinen Nobelpreis gibt. Aber Kolakowski, der mehr als einmal erklärte, sich am meisten in Paris zu Hause zu fühlen, ist keinen Deut mehr Amerikaner als Engländer. Am treffendsten beschreibt man ihn vielleicht als den letzten illustren Bürger der Gelehrtenrepublik des 20. Jahrhunderts.
In den meisten seiner Wahlheimaten kennt man Leszek Kolakowski vor allem für seine bemerkenswerte dreibändige Geschichte des Marxismus,Die Hauptströmungen des Marxismus(und mancherorts nur als solchen). 1976 auf Polnisch (in Paris) erschienen, kam das Werk ein Jahr später in Deutschland und zwei Jahre später in England heraus und wurde in den USA mittlerweile als einbändige Ausgabe neu aufgelegt.2Ohne Zweifel verdient dieses Werk höchste Wertschätzung, ist es doch ein Monument der modernen humanistischen Gelehrsamkeit. Freilich entbehrt die Prominenz des Werkes unter Kolakowskis Schriften nicht einer gewissen Ironie, ist sein Autor doch alles andere als ein »Marxologe«. Er ist ein Philosoph, ein Philosophiehistoriker und ein katholischer Denker. Er verbrachte Jahre mit dem Studium frühchristlicher Sekten und Häresien und hat sich einen Großteil des letzten Vierteljahrhunderts der Geschichte der europäischen Religion und Philosophie und dem gewidmet, was man am besten philosophisch-theologische Spekulation nennen könnte.
Kolakowskis »marxistische« Phase, angefangen mit seiner Prominenz im Nachkrie