1. KAPITEL
Das Autumn Daze Festival hat sich in den letzten dreizehn Jahren kein bisschen verändert, dachte Wade Hardison, als er die Elm Street entlangschlenderte. Die normalerweise verschlafene Kleinstadt Cottonwood in Texas verwandelte sich alljährlich im Herbst kurzfristig in ein Kaleidoskop von Sinnenfreuden.
Lärmende Kinder stürmten an ihm vorbei, und ihr ausgelassenes Lachen ließ ihn nostalgisch werden. Engagierte Mütter von Schulkindern und deren Ehemänner, alles Farmer, betätigten sich erfolgreich als Marktschreier und lockten Einwohner und Touristen gleichermaßen an, um ihr Glück beim Ringe- oder Dosenwerfen zu versuchen. Im Moment war Bürgermeister Dilly das willige Opfer.
Der Duft nach Popcorn, Zuckerwatte und gegrillten Putenschenkeln hing in der Luft und erinnerte Wade daran, dass er hungrig war. Er überlegte, was er essen sollte, während die Dämmerung langsam über das Städtchen hereinbrach. Hunderte von weißen Lichtern flammten auf.
Es war schön, wieder zu Hause zu sein. Wade hatte Cottonwood als wütender Jugendlicher verlassen, im Streit mit jedem, unsicher, wo sein Platz in dieser Welt war, aber bereit, ihn zu erobern. Er hatte geschafft, was er sich vorgenommen hatte – er hatte sich eine Karriere aufgebaut in einem Bereich, von dem seine Brüder keine Ahnung hatten. Nun war er zurückgekehrt, bereit, mit seiner Familie Frieden zu schließen.
Das einzige Problem war, dass er nicht wusste, ob seine Familie sich mit ihm versöhnen wollte. Seine Heimkehr vor zwei Tagen war nicht die des verlorenen Sohnes gewesen. Keiner hatte ein Freudenfest veranstaltet.
Zumindest ließ sein Großvater ihn auf der Ranch wohnen.
Als er die rothaarige junge Frau erblickte, die an einer Eiche lehnte und genüsslich an einem kandierten Apfel knabberte, glaubte Wade einen Moment lang, das Herz bliebe ihm stehen. Dann dachte er, es müsste sich um eine Halluzination handeln.
Obwohl er Annie seit Mai nicht gesehen hatte, hatte er nichts vergessen – weder ihr Lachen noch ihren Duft noch das Gefühl ihrer Hände in seinen. Er hatte sich mit Erinnerungen zufrieden geben müssen, denn das war alles, was ihm von dem Wochenende geblieben war – sie war danach spurlos verschwunden.
Und jetzt fand er sie hier, wo er sie am wenigsten erwartet hätte, in seiner Heimatstadt. Unverwechselbar ihre roten Haare. Ihre großen grünen Augen. Ihr sinnlicher Mund.
Aber irgendwie sah sie auch ganz anders aus. Ihre Haare zum Beispiel. Die Farbe stimmte, aber seine Annie hatte einen wilden Lockenkopf gehabt, eine tiefrote seidige Haarpracht, in der sich ein Mann verlieren konnte. Diese Frau hatte ihre Haare zu einem Knoten gebunden.
Auch die Kleidung passte nicht. Annie hatte enge Jeans getragen, ein knappes, tief ausgeschnittenes Top, eine mit Strass verzierte Weste. An den Fingern hatte sie zahlreiche Ringe getragen und dazu große, baumelnde Ohrringe. Diese Frau trug einen weiten Rollkragenpullover über ihrem Kleid, schwarze Strümpfe und Turnschuhe. Ihre Ohren zierten kleine Goldstecker.
Der auffälligste Unterschied zwischen Annie und der geheimnisvollen Frau zeigte sich jedoch im Gesicht. Die Gesichtszüge waren zwar dieselben, doch der Ausdruck war völlig anders. Annie hatte gelächelt und gelacht und war die ganze Zeit froh gelaunt gewesen. Das Gesicht dieser Frau wirkte verschlossen, ein vorsichtiger Blick lag in den Augen – und eine tiefe Traurigkeit.
„Siehst du etwas, das dir gefällt?“
Wade schreckte zusammen und hätte fast sein Getränk verschüttet, als sein älterer Bruder Jeff ihn ansprach.
„Wer ist sie?“
„Du erinnerst dich nicht an sie?“
„Dann kennst du sie also?“ Dumme Frage, Jeff kannte jeden. Er hatte Medizin studiert und war vor einigen Jahren in die Praxis seines Vaters eingestiegen, der seit Jahrzehnten der einzige Arzt im Ort war. Früher oder später kam