: Eudora Welty
: Die Tochter des Optimisten
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783688106066
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 184
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Judge McKelva ist tot, der gütigste und gerechteste Richter von ganz Mississippi. Er, der sich immer für einen Optimisten gehalten hatte, dessen Einstellung zum Leben vom Leben selbst durchaus bestätigt worden war, stirbt nach einer Augenoperation. Zu seinem Begräbnis kommen die angesehenen Familien der Kleinstadt zusammen und reden über Bridge, Rosen und Räucherschinken. Zwei Frauen nehmen die Kondolenzen entgegen: Fay, die junge Witwe, eine laute, egoistische Texanerin, die mit ihrer Sippschaft zu all der stillen Vornehmheit ringsum einen störenden, aber ungemein lebhaften Kontrast bildet. Und Laurel, die Tochter des Richters aus seiner ersten Ehe, die älter als ihre Stiefmutter ist und aus dem fernen, kalten Chicago herbeigereist ist. Laurel ist scheinbar ganz heimisch in dieser Welt, sie saugt sich noch einmal ganz voll mit Erinnerungen an ihre Kindheit und ihre Eltern. Und plötzlich wird ihr klar, daß sie unangenehme Vorfälle und schmerzliche Wahrheiten nicht mehr so einfach verdrängen kann.

Eudora Welty wurde 1909 in Jackson, Mississippi, geboren. Dort, im amerikanischen Süden, sind auch ihre zahlreichen Kurzgeschichten und Romane zu Hause. Eudora Welty gilt als weibliches Pendant zu William Faulkner und als bedeutende Stimme des amerikanischen Südens. Für »Die Tochter des Optimisten« erhielt sie 1973 den Pulitzer-Preis. Sie starb 2001.

Eins


1


Eine Krankenschwester hielt ihnen die Tür auf. Judge McKelva betrat als erster den fensterlosen Raum, in dem der Arzt die Untersuchung vornehmen wollte, dann seine Tochter Laurel, dann seine Frau Fay. Judge McKelva war ein großer schwerer Mann von einundsiebzig Jahren. Seine Brille, die er gewöhnlich an einem Band um den Hals trug, hielt er jetzt in der Hand, als er sich, flankiert von Laurel und Fay, auf dem thronartigen Stuhl vor dem Arztschemel niederließ.

Laurel McKelva-Hand, schlank und mit einem ruhigen, stillen Gesicht, war Mitte Vierzig. Ihr Haar war noch dunkel. Sie trug ein Kostüm, das durch seinen aparten Schnitt und Stoff auffiel. Für New Orleans allerdings war es zu winterlich, und der Rock war zerknittert. Ihre dunkelblauen Augen sahen müde aus.

Fay, klein und blaß in ihrem Kleid mit den Goldknöpfen, klopfte mit der einen Fußspitze auf den Boden. Sie trug Sandaletten.

Es war ein Montagmorgen Anfang März. Sie alle waren fremd in New Orleans.

Dr. Courtland, auf die Minute pünktlich, kam mit großen Schritten durch den Raum und schüttelte Judge McKelva und Laurel die Hand. Er mußte Fay, die erst seit anderthalb Jahren mit Judge McKelva verheiratet war, vorgestellt werden. Dann saß der Doktor auf dem Schemel, die Absätze auf den Quersteg gestützt. Achtungsvollaufmerksam hob er den Kopf, so als habe er hier in New Orleans auf Judge McKelva gewartet – um dem Richter ein Geschenk zu überreichen oder eines von ihm in Empfang zu nehmen.

»Nate«, sagte Laurels Vater, »vielleicht liegt es ja daran, daß ich nicht mehr so jung bin wie früher. Aber ich glaube fast, mit meinenAugen ist etwas nicht in Ordnung.«

Als stünde ihm unbeschränkt Zeit zur Verfügung, faltete der bekannte Ophthalmologe Dr. Courtland seine großen bäuerlichen Hände, deren Finger auf Laurel immer den Eindruck gemacht hatten, als genüge die leise Berührung mit dem Glas einer Uhr, um ihnen die Uhrzeit zu übermitteln.

»Ich habe diese kleine Störung genau seit George Washingtons Geburtstag«, sagte Judge McKelva.

Dr. Courtland nickte, als sei das ein angemessener Tag dafür. »Erzählen Sie mir etwas über die kleine Störung«, sagte er.

»Ich war wieder ins Haus gegangen. Ich hatte ein wenig die Rosen beschnitten – ich habe mich zur Ruhe gesetzt, wie du weißt. Und ich stand hinten in meiner vorderen Veranda und hatte ein wachsames Auge auf die Straße – Fay war nämlich irgendwohin entschwunden«, sagte Judge McKelva und neigte ihr sein mildes Lächeln zu, das einer mißbilligenden Miene so ähnlich sah.

»Ich war nur eben in der Stadt im Schönheitssalon und ließ mir von Myrtis das Haar legen«, sagte Fay.

»Und da sah ich den Feigenbaum«, sagte Judge McKelva. »Den Feigenbaum! Und die alten Blechdinger, mit denen Becky ihn vor Jahren behängt hat, weil sie meinte, das werde die Vögel abschrecken, schossen Blitze!«

Beide Männer lächelten. Sie gehörten verschiedenen Generationen an, waren aber in demselben Ort aufgewachsen. Becky war Laurels Mutter. Jene kleinen selbstgemachten Reflektoren, runde Scheiben aus Blech, hielten keineswegs die Vögel im Juli von den Feigen fern.

»Nate, du weißt so gut wie ich, daß dieser Feigenbaum hinter meinem Haus im Garten steht, nicht weit von der Stelle, wo deine Mutter ihren Kuhstall hatte. Aber er schoß Blitze nach mir, während ich in die entgegengesetzte Richtung sah, zum Rathaus hinüber«, fuhr Judge McKelva fort. »Also war ich gezwungen, die Schlußfolgerung zu ziehen, daß ich plötzlich rückwärts sah.«

Fay lachte – ein