: Wolfgang Schmidbauer
: Die subjektive Krankheit Kritik der Psychosomatik
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783688105304
: 1
: CHF 10.00
:
: Angewandte Psychologie
: German
: 304
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Jede Erkrankung, vom banalen Schnupfen bis zum tödlichen Herzinfarkt, wird durch die geheimnisvolle Macht des Subjekts mitbestimmt. Aber sein Zugang und sein Einfluß sind nicht rational kontrollierbar, objektiv meßbar. Moralisierende, in Leistungszusammenhänge eingebettete «Übersetzungen» der Krankheit in eine lexikalisch geordnete Organsprache führen zu einer Selbst-Kolonialisierung der Subjekte, die in die Formel mündet «Ich weiß schon, es ist psychosomatisch». Im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Fragen, die ein für allemal geklärt und dann abgeheftet werden können, stellen sich die Fragen nach unserem Schicksal und unseren Gefühlsbeziehungen immer wieder neu. Die Schwierigkeiten im Umgang mit eigener und fremder Krankheit liegen darin, daß die für einen möglichst schonenden und hilfreichen Umgang nötige Kreativität durch keine auch noch so brillante chemische, biologische oder psychologische Erkenntnis gewährleistet werden kann. Allenfalls kann man günstigere Bedingungen für diese Kreativität schaffen. Dazu soll diese Kritik der Psychosomatik nützlich sein.

Wolfgang Schmidbauer wurde 1941 geboren. 1966 promovierte er im Fach Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universitä München über «Mythos und Psychologie». Er lebt in München und Dießen am Ammersee, hat drei erwachsene Töchter und arbeitet als Psychoanalytiker in privater Praxis. Neben Sachbüchern, von denen einige Bestseller wurden, hat er auch eine Reihe von Erzählungen, Romanen und Berichten über Kindheits- und Jugenderlebnisse geschrieben. Er ist Kolumnist und schreibt regelmäßig für Fach- und Publikumszeitschriften. Außerdem ist er Mitbegründer der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik.

1Die Hypochondrie


Spricht die Liebe, so spricht

Ach, schon die Liebe nicht mehr.

F. Hebbel, Tagebücher

So wie der Altknecht schon seit jeher die Bewirtschaftung des Gutes führte, mußte nun der Bediente die Kleiderkammer übernehmen, der Schaffner erhielt die Geräte, der Verwalter das Vermögen, und er, der Herr, hatte kein anderes Geschäft, als sich zu heilen.

Um den Zweck völlig zu erreichen, schaffte er sich sofort alle Bücher an, die über den menschlichen Körper handelten. Er schnitt sie auf und legte sie in Stößen nach der Ordnung hin, in der er sie lesen wollte. Die ersten waren natürlich die, die über die Beschaffenheit und Verrichtungen des gesunden Körpers handelten. Aus ihnen war nicht viel zu entnehmen, aber sobald er zu den Krankheiten gekommen war, so war es ganz deutlich, wie die Züge, die beschrieben wurden, in aller Schärfe auf ihn paßten – ja sogar Merkmale, die er früher nicht an sich beobachtet hatte, die er aber jetzt aus dem Buche las, fand er ganz klar und erkennbar an sich ausgeprägt und konnte nicht begreifen, wie sie ihm früher entschlüpft waren. Alle Schriftsteller, die er las, beschrieben seine Krankheit, wenn sie auch nicht überall den nämlichen Namen für sie anführten. Sie unterschieden sich nur darin, daß jeder, den er später las, die Sache noch immer besser und richtiger traf als jeder, den er vorher gelesen hatte.

Adalbert Stifter, Der Waldsteig

Der Essener Kommunikationswissenschaftler Horst Merscheim meint entdeckt zu haben, daß das Fernsehen Krankheiten übertragen kann. In seiner Doktorarbeit zum Thema «Medizin und Fernsehen» schildert er den «Morbus Mohl», benannt nach dem Leiter derZDF-Gesundheitssendung «Gesundheitsmagazin Praxis», Hans Mohl. Die Krankheit äußere sich darin, daß an Tagen nach der Schilderung von Krankheitssymptomen in Fernsehsendungen die Zuschauer recht zahlreich in die Arztpraxen kämen, weil sie glaubten, sie litten an der Krankheit. Merscheims Arbeit beruht auf der Befragung von 33 Ärzten sowie der Inhaltsanalyse von Medizinsendungen in allen drei Fernsehprogrammen. Danach sorgen viele Sendungen für eine Bedarfsweckung bei den Patienten: Die Besucher in den Sprechzimmern verlangen, angeregt durch die Sendungen, von ihren Ärzten neue Untersuchungsmethoden.

Süddeutsche Zeitung, Nr. 292 (1984), S. 44

Die Meldung über hypochondrische Ängste, die sogenannte «Gesundheitssendungen» bewirken, ist ein Beispiel unter vielen möglichen. Länger bekannt ist der «Morbus clinicus». Gemeint sind Störungen von Medizinstudenten, die nach ihren Vorstudien über Chemie, Physik und Biologie in die klinischen Semester eintreten, d.h. über Krankheiten lesen. Viele von ihnen erkranken dann an sogenannten «eingebildeten Leiden». Diese sind ein fesselndes Beispiel für eine Situation, die gerade deshalb eine genauere Untersuchung verdient, weil in ihr die meist unbesehen geglaubte Formel «Wissen ist Macht» fast in ihr Gegenteil verkehrt wird: Wissen ist Ohnmacht.

Die «Krankheit», welche das Gesundheitsmagazin bei den Fernsehzuschauern oder das Studium der medizinischen Lehrbücher bei den Studenten auslöst, heißt «Hypochondrie». Ähnlich wie Neurose, unter der die alten Ärzte eine körperliche, auf einer Degeneration der Nerven beruhende Krankheit verstanden, ist auch Hypochondrie ursprünglich die Bezeichnung einer körperlichen Krankheit. Der Begriff wurde von Claudius Galenus (129 bis 199 n. Chr.) geprägt, einem der großen antiken Ärzte-Schriftsteller, der über 500 Traktate verfaßte (von denen etwa hundert erhalten sind). Hypochondrium ist die Stelle unterhalb des Brustbeins, der Oberbauch. Solange der Glaube an die überlegene Wissenschaft der antiken Ärzte das Abendland beherrschte, war diese Auffassung der Hypochondrie als eine Form hartnäckiger Leibschmerzen mit Blähungen und/oder Verstopfung allgemein anerkannt. Bis 1900 finden sich entsprechende Aussagen, wobei die Autoren aber immer unsicherer werden, ob es sich w