: H.P. Lovecraft
: Der Fall Charles Dexter Ward
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104907338
: Arkham-Erzählungen
: 1
: CHF 3.00
:
: Horror
: German
: 278
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Charles Dexter Ward, ein junger Mann aus einer angesehenen Familie von Providence, ist aus der Nervenheilanstalt entflohen, in die er aufgrund merkwürdiger Persönlichkeitsveränderungen eingewiesen wurde. Der Arzt der Familie, Marinus Bicknell Willett, geht seinem Fall nach und stößt dabei auf den geheimnisvollen Joseph Curwen, einen Vorfahren Wards, der zwar schon lange tot ist, aber noch immer einen schrecklichen Einfluss auf die Lebenden ausübt ... H. P. Lovecrafts einziger unheimlicher Roman in ungekürzter Neuübersetzung, der es erstmals gelingt, Lovecrafts speziellen Stil und die besondere Atmosphäre seiner Erzählung in deutscher Sprache schillern zu lassen. »H. P. Lovecraft ist der bedeutendste Horror-Autor des 20. Jahrhunderts.« Stephen King Unter dem Titel »The Case of Charles Dexter Ward« erstmals veröffentlicht 1941 in der Zeitschrift »Weird Tales« Erstdruck der Übersetzung in»Der Fall Charles Dexter Ward« (Golkonda, 2016); Wiederabdruck in »H. P. Lovecraft - Das Werk« (FISCHER Tor, 2017)

H. P. Lovecraft (1890-1937) ist der einflussreichste und beliebteste Horror-Autor des 20. Jahrhunderts. Seine Erzählungen erschienen zu seinen Lebzeiten vor allem in Magazinen wie »Weird Tales« und werden heute in Millionenauflagen gedruckt und gelesen.

I.Ein Resultat und ein Prolog


1.


Aus einer privaten Klinik für Geisteskranke in der Nähe von Providence, Rhode Island, verschwand vor kurzem ein außerordentlich merkwürdiges Individuum. Der Patient nannte sich Charles Dexter Ward und war nur äußerst widerstrebend von seinem untröstlichen Vater in die Anstalt eingeliefert worden. Dieser hatte miterlebt, wie die Geistesverwirrung seines Sohnes sich von bloßer Exzentrizität zu einer dunklen Manie steigerte, die nicht nur plötzliche Anfälle von Mordlust fürchten ließ, sondern auch tiefgreifende und eigentümliche Veränderungen des Bewusstseins mit sich brachte. Die medizinische Fachwelt steht dem Fall weitgehend ratlos gegenüber, da er eine Reihe erstaunlicher physiologischer und psychologischer Merkwürdigkeiten aufweist.

Zum einen erschien der Patient auf sonderbare Weise älter, als es seinen sechsundzwanzig Jahren entsprach. Zwar lassen geistige Störungen den Menschen bekanntlich rascher altern, aber das Gesicht des jungen Mannes hatte gewisse kaum sichtbare Züge angenommen, die man gewöhnlich nur bei sehr alten Menschen findet. Zum anderen waren seine Organfunktionen auf eine Art aus dem Gleichgewicht geraten, für die sich in der medizinischen Praxis nichts Vergleichbares findet. Atmung und Herzschlag waren merkwürdig aus dem Takt geraten, und der Patient hatte seine Stimme verloren, so dass er nur noch ein Flüstern hervorbringen konnte. Die Verdauung war unglaublich verlangsamt und reduziert, und seine Nervenreaktionen auf die üblichen Stimuli wiesen keine Ähnlichkeit mit irgendetwas auf, das je zuvor bei Gesunden oder Kranken beobachtet wurde. Die Haut war krankhaft kühl und trocken, und die Zellstruktur des Gewebes schien ungewöhnlich grob und porös. Ein großes olivfarbenes Muttermal an der rechten Hüfte war verschwunden, während sich auf der Brust ein sehr eigentümlicher Fleck oder schwarzer Punkt gebildet hatte, der zuvor nicht dort gewesen war. Im Großen und Ganzen waren sich die Ärzte einig, dass sich Wards Stoffwechsel in einem nie dagewesenen Grad reduziert hatte.

Auch in psychologischer Hinsicht war Charles Ward ein einzigartiger Fall. Selbst wenn man die neusten und umfassendsten Abhandlungen hinzuzog, hatte sein Wahnsinn keine Ähnlichkeit mit irgendeinem bekannten Krankheitsbild und verband sich mit einer Geisteskraft, die ihn zu einem Genie oder einer Führerpersönlichkeit gemacht hätte, wäre sie nicht durch irgendetwas in seltsame und groteske Bahnen gelenkt worden. Dr. Willett, der Hausarzt der Wards, versichert, dass die ungeheure geistige Leistungsfähigkeit des Patienten, die sich auf allen Gebieten äußerte, welche außerhalb des Bereichs seiner Geistesstörung lagen, mit dem Ausbruch seines Wahns sogar noch zugenommen hatte. Ward war tatsächlich von jeher ein Gelehrter und Historiker gewesen, doch selbst seine brillantesten frühen Arbeiten zeigten nicht jene ans Wunderbare grenzende Auffassungsgabe und Erkenntnisfähigkeit, die er während seiner letzten Untersuchungen durch die Nervenärzte an den Tag legte. Es gestaltete sich dementsprechend schwierig, eine gerichtliche Einweisung in die Klinik zu erwirken, so kraftvoll und klar schien der Geist des jungen Mannes. Nur aufgrund der Aussagen Dritter und angesichts der Diskrepanz zwischen seiner überragenden Intelligenz und einer Vielzahl ungewöhnlicher Wissenslücken wurde er schließlich in Verwahrung genommen. Bis zum Moment seines Verschwindens war er ein unersättlicher Leser gewesen und hatte, soweit es seine angeschlagene Stimme zuließ, jede Gelegenheit zur Konversation genutzt. Scharfsinnige Beobachter,