: Frank Wedekind
: Jürgen Schulze
: Frühlings Erwachen Eine Kindertragödie
: Null Papier Verlag
: 9783962810085
: 3
: CHF 0.90
:
: Dramatik
: German
: 136
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Frühlings Erwachen (Untertitel: »Eine Kindertragödie«) ist ein im Jahr 1891 erschienenes gesellschaftskritisches und auch satirisches Drama von Frank Wedekind. Das Stück erzählt die Geschichte mehrerer Jugendlicher, die im Zuge ihrer Pubertät und der damit verbundenen sexuellen Neugier mit ihren Problemen allein gelassen werden. Ihre psychische Instabilität lässt sie an der Intoleranz der Erwachsenen verzweifeln. Das Stück ist von eigenen Erlebnissen des Autors inspiriert. Als Vorbild für die Figur des Moritz dienten ihm zwei Mitschüler, die 1883 bzw. 1885 Suizid begingen. Nachdem ein erster Verlag die Publikation des Stücks aus Angst vor rechtlichen Problemen abgelehnt hatte, verlegte es der Autor auf eigene Kosten bei einem Züricher Verlag. Die Uraufführung fand erst am 20. November 1906 an den Berliner Kammerspielen unter der Regie von Max Reinhardt und Mitarbeit von Hermann Bahr statt. Das Stück brach mit vielen Tabus seiner Zeit und war vom ersten Augenblick an von Zensur und Gerichtsverfahren bedroht. Die bürgerliche Sexualmoral des Wilhelminischen Kaiserreichs duldete keine offene Beschäftigung mit solchen Themen - erst recht nicht, wenn Jugendliche thematisiert wurden. Das Stück hat leider nichts von seiner Relevanz eingebüßt. Null Papier Verlag

Frank Wedekind - eigentlich: Benjamin Franklin Wedekind (1864-1918) war ein deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Schauspieler. Er gehörte er zu den meistgespielten Dramatikern seiner Epoche. In seinen Theaterstücken übte er scharfe Gesellschaftskritik. Mit Dramen wie »Frühlings Erwachen« und »Lulu« wandte er sich gegen schulische Dressur, bürgerliche Scheinheiligkeit und Prüderie. Seine Texte wurden oftmals als sittenwidrig angesehen und beschlagnahmt.

Zweite Szene


Sonn­tag­abend

Mel­chi­or: Das ist mir zu lang­wei­lig. Ich ma­che nicht mehr mit.

Otto: Dann kön­nen wir an­dern nur auch auf­hö­ren! – Hast du die Ar­bei­ten, Mel­chi­or?

Mel­chi­or: Spielt ihr nur wei­ter!

Mo­ritz: Wo­hin gehst du?

Mel­chi­or: Spa­zie­ren.

Ge­org: Es wird ja dun­kel!

Ro­bert: Hast du die Ar­bei­ten schon?

Mel­chi­or: Wa­rum soll ich denn nicht im Dun­keln spa­zie­ren­ge­hen?

Ernst: Zen­tral­ame­ri­ka! – Lud­wig der Fünf­zehn­te! – Sech­zig Ver­se Ho­mer! – Sie­ben Glei­chun­gen!

Mel­chi­or: Ver­damm­te Ar­bei­ten!

Ge­org: Wenn nur we­nigs­tens der la­tei­ni­sche Auf­satz nicht auf mor­gen wäre!

Mo­ritz: An nichts kann man den­ken, ohne dass ei­nem Ar­bei­ten da­zwi­schen­kom­men!

Otto: Ich gehe nach Hau­se.

Ge­org: Ich auch, Ar­bei­ten ma­chen.

Ernst: Ich auch, ich auch.

Ro­bert: Gute Nacht, Mel­chi­or.

Mel­chi­or: Schlaft wohl!

Al­le ent­fer­nen sich bis auf Mo­ritz und Mel­chi­or.

Mel­chi­or: Möch­te doch wis­sen, wozu wir ei­gent­lich auf der Welt sind!

Mo­ritz: Lie­ber woll­t’ ich ein Drosch­ken­gaul sein um der Schu­le wil­len! – Wozu ge­hen wir in die Schu­le? – Wir ge­hen in die Schu­le, da­mit man uns ex­ami­nie­ren kann! – Und wozu ex­ami­niert man uns? – Da­mit wir durch­fal­len. – Sie­ben müs­sen ja durch­fal­len, schon weil das Klas­sen­zim­mer oben nur sech­zig fasst. – Mir ist so ei­gen­tüm­lich seit Weih­nach­ten … hol mich der Teu­fel, wäre Papa nicht, heut noch schnür­t’ ich mein Bün­del und gin­ge nach Al­to­na!

Mel­chi­or: Re­den wir von et­was an­de­rem. –

Sie ge­hen spa­zie­ren.

Mo­ritz: Siehst du die schwar­ze Kat­ze dort mit dem em­por­ge­r­eck­ten Schweif?

Mel­chi­or: Glaubst du an Vor­be­deu­tun­gen?

Mo­ritz: Ich weiß nicht recht. – – Sie kam von drü­ben her. Es hat nichts zu sa­gen.

Mel­chi­or: Ich glau­be, das ist eine Cha­ryb­dis, in die je­der stürzt, der sich aus der Skyl­la re­li­gi­ösen Irr­wahns em­por­ge­run­gen. – – Lass uns hier un­ter der Bu­che Platz neh­men. Der Tau­wind fegt über die Ber­ge. Jetzt möch­te ich dro­ben im Wald eine jun­ge Drya­de sein, die sich die gan­ze lan­ge Nacht in den höchs­ten Wip­feln wie­gen und schau­keln lässt.

Mo­ritz: Knöpf dir die Wes­te auf, Mel­chi­or!

Mel­chi­or: Ha – wie das ei­nem die Klei­der bläht!

Mo­ritz: Es wird weiß Gott so stock­fins­ter, dass man die Hand nicht vor den Au­gen sieht. Wo bist du ei­gent­lich? – – Glaubst du nicht auch, Mel­chi­or, dass das Scham­ge­fühl im Men­schen nur ein Pro­dukt sei­ner Er­zie­hung ist?

Mel­chi­or: Dar­über habe ich erst vor­ges­tern noch nach­ge­dacht. Es scheint mir im­mer­hin tief ein­ge­wur­zelt in der mensch­li­chen Na­tur. Den­ke dir, du sollst dich voll­stän­dig ent­klei­den vor dei­nem bes­ten Freund. Du wirst es nicht tun, wenn er es nicht zu­gleich auch tut. – Es ist eben auch mehr oder we­ni­ger Mo­de­sa­che.

Mo­ritz: Ich habe mir schon ge­dacht, wenn ich Kin­der habe, Kna­ben und Mäd­chen, so las­se ich sie von früh auf im näm­li­chen Ge­mach, wenn mög­lich auf ein und dem­sel­ben La­ger, zu­sam­men schla­fen, las­se ich sie mor­gens und abends beim An- und Aus­klei­den ein­an­der be­hilf­lich sein und in der hei­ßen Jah­res­zeit, die Kna­ben so­wohl wie die Mäd­chen, tags­über nichts als eine kur­ze, mit ei­nem Le­der­rie­men ge­gür­te­te Tu­ni­ka aus weißem Woll­stoff tra­gen. – Mir ist, sie müss­ten, wenn sie so her­an­wach­sen, spä­ter ru­hi­ger sein, als wir es in der Re­gel sind.

Mel­chi­or: Das glau­be ich ent­schie­den, Mo­ritz! – Die Fra­ge ist nur, wenn die Mäd­chen Kin­der be­kom­men, was dann?

Mo­ritz: Wie­so Kin­der be­kom­men?

Mel­chi­or: Ich glau­be in die­ser Hin­sicht näm­lich an einen ge­wis­sen In­stinkt. Ich glau­be, wenn man einen Ka­ter zum Bei­spiel mit ei­ner Kat­ze von Ju­gend auf zu­sam­men­sperrt und bei­de von je­dem Ver­kehr mit der Au­ßen­welt fern­hält, d.h. sie ganz nur ih­ren ei­ge­nen Trie­ben über­lässt – dass die Kat­ze frü­her oder spä­ter doch ein­mal träch­tig wird, ob­gleich sie so­wohl wie der Ka­ter nie­mand hat­ten, des­sen Bei­spiel ih­nen hät­te die Au­gen öff­nen kön­nen.

Mo­ritz: Bei Tie­ren muss sich das ja schließ­lich von selbst er­ge­ben.

Mel­chi­or: Bei Men­schen glau­be ich erst recht! Ich bit­te dich, Mo­ritz, wenn dei­ne Kna­ben mit den Mäd­chen auf ein und dem­sel­ben La­ger schla­fen und es kom­men ih­nen nun un­ver­se­hens die ers­ten männ­li­chen Re­gun­gen – ich möch­te mit je­der­mann eine Wet­te ein­ge­hen …

Mo­ritz: Da­rin magst du ja recht ha­ben. – Aber im­mer­hin …

Mel­chi­or: Und bei dei­nen Mäd­chen wäre es im ent­spre­chen­den Al­ter voll­kom­men das näm­li­che! Nicht, dass das Mäd­chen ge­ra­de … man kann das ja frei­lich so ge­nau nicht be­ur­tei­len … je­den­falls wäre vor­aus­zu­set­zen … und die Neu­gier­de wür­de das Ih­ri­ge zu tun auch nicht ver­ab­säu­men!

Mo­ritz: Eine Fra­ge bei­läu­fig –

Mel­chi­or: Nun?

Mo­ritz: Aber du ant­wor­test?

Mel­chi­or: Na­tür­lich!

Mo­ritz: Wahr?!

Mel­chi­or: Mei­ne Hand dar­auf. – – Nun, Mo­ritz?

Mo­ritz: Hast du den Auf­satz schon??

Mel­chi­or: So sprich doch frisch von der Le­ber weg! – Hier hört und sieht uns ja nie­mand.

Mo­ritz: Selbst­ver­ständ­lich müss­ten mei­ne Kin­der näm­lich tags­über ar­bei­ten, in Hof und Gar­ten, oder sich durch Spie­le zer­streu­en, die mit kör­per­li­cher An­stren­gung ver­bun­den sind. Sie müss­ten rei­ten, tur­nen, klet­tern und vor al­len Din­gen nachts nicht so weich schla­fen wie wir. Wir sind schreck­lich ver­weich­licht. – Ich glau­be, man träumt gar nicht, wenn man hart schläft.

Mel­chi­or: Ich schla­fe von jetzt bis nach der Wein­le­se über­haupt nur in mei­ner Hän­ge­mat­te. Ich habe mein Bett hin­ter den Ofen ge­stellt. Es ist zum Zu­sam­men­klap­pen. – Ver­gan­ge­nen Win­ter träum­te mir ein­mal, ich hät­te un­sern Lolo so lan­ge ge­peitscht, bis er kein Glied mehr rühr­te. Das war das Grau­en­haf­tes­te, was ich je ge­träumt habe. – Was siehst du mich so son­der­bar an?

Mo­ritz: Hast du sie schon emp­fun­den?

Mel­chi­or: Was?

Mo­ritz: Wie sag­test du?

Mel­chi­or: Männ­li­che Re­gun­gen?

Mo­ritz: M-hm.

Mel­chi­or: – Al­ler­dings!

Mo­ritz: Ich auch – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –...